Nicht nur Rechtspopulist*innen wird die Verwendung von alternative facts unterstellt, auch im Presseraum des weißen Hauses müssen sich Journalist*innen die Anschuldigung „You’re fake news!“ gefallen lassen. Carina Krieger schreibt darüber, wie Lügen funktionieren und warum solche Strategien Erfolg haben.

Stumm vor einem Zuckerladen

Meine These: Lügen sind keine eindimensionale Sache. In jeder Lüge drückt sich auch irgendeine Wahrheit aus. Lügen haben einen speziellen Nutzen. Und sie üben einen diffusen Reiz auf uns aus. Nun stellt sich die Frage: Was macht diesen Reiz (insbesondere im Fall von fake news) aus und wie wollen wir uns dem gegenüber verhalten?
Lügen sind lecker und ungesund wie Süßigkeiten. Der gesunde Menschenverstand ist dagegen leider so trocken, dass einem der Mund zusammenpappt. Wir stehen verstummt vor einem florierenden Zuckerladen.

Ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt

Liest man das erste Kapitel von Nietzsches „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“1bekommt man den Eindruck, da schreibt ein etwas zorniger Mann, der sich über das sture „Zahlendenken“ des intellektuell orientierten Menschen ärgert. In seinem Aufsatz geht es um die grundlegende Frage der Erkenntnistheorie: Was ist Wahrheit? Oder: Was ist dem Menschen schon Wahrheit, wenn er stattdessen auch auf Lug und Trug zurückgreifen kann?
Nietzsches Text ist geprägt von einem ganz und gar konstruktivistischen Gedanken: Auch Wahrheit ist etwas Gemachtes, etwas Pragmatisches. Wahrheit wird mit Sprache (oder mit „Namen“ bzw. Benennungen) konstruiert, sie ist das, worin man sich einig ist. Und einig muss man sich sein, damit es auf der Welt friedlich zugeht. „Der Lügner gebraucht die gültigen Bezeichnungen, die Worte, um das Unwirkliche als wirklich erscheinen zu machen“. Er macht deutlich: Wahrheit (als die Bedeutung der Worte, die wir konventionalisiert haben, also über die wir übereingekommen sind) und Lüge sind beide etwas Gemachtes. Die Lüge übersteigt aber in ihrem Grad an Konstruiertheit die Wahrheit, sie kehrt das Gültige um, und macht willkürlich etwas anderes daraus, das dem*r Lügner*in nützlich ist.

Und ja, man kann wohl zornig oder zumindest verblüfft sein über die Sache mit der Wahrheit, auch in unseren Tagen. Diese „fake news“ und alternative facts, das ist schon ärgerlich. Aber was bedeutet das eigentlich? Da werden Nachrichten verbreitet und Aussagen gemacht, und die sind irgendwie falsch. Falsch gemacht, um genau zu sein. Oder es werden Sachlagen beschrieben oder verkündet, die faktisch eigentlich anders liegen. So ist die Aussage Trumps, Obama sei der Gründer des IS, unzutreffend. Dennoch ist sie aussagekräftig und effektvoll. Es findet fast keine (Selbst- oder Fremd-) Korrektur statt. Man könnte nun fragen, was die besondere Qualität ist an solch einer Aussage. Angeboten werden uns die Klassifikationen: „Fake“ – das suggeriert, es handle sich um einen gewollten Täuschungsversuch – und „alternative“ – Trump spreche hiernach sozusagen unkonventionell. Klar ist: es liegt eine Abweichung vom Standardfall vor. Unklar ist: Wie funktioniert diese Abweichung? Und: Was fangen wir damit an?

Von Täuschungen im Alltag

„Mir geht’s super!“, sage ich zu meinem Chef, während ich eigentlich Menstruationsbeschwerden habe und traurig darüber bin, dass mein Meerschweinchen gestorben ist. „Nein, ich habe nicht zu lange gesnoozt, der Zug ist ausgefallen“, dabei hat mein Wecker natürlich 5 Mal geklingelt. Ausreden und Notlügen sind etwas Alltägliches. Die Rede von der Notlüge impliziert, dass man Lügen doch nur im Notfall einsetzen sollte; dass das Lügen also im Normalfall als etwas Ungewolltes, Verpöntes gilt und zu vermeiden ist. Notlügen sind ein moralischer Grenzfall. Wenn eine Zwangslage besteht, dann kann es legitim sein, auf eine Lüge zurückzugreifen. Das, was an der Lüge moralisch nicht in Ordnung ist, ist ihr anti-aufklärerisches Moment: Sie bedeutet eine Täuschung und also eine Verdeckung der Wahrheit oder eine Nicht-Berücksichtigung des Willens zum Wissen des Anderen.
Nietzsche wiederum nimmt hier eine ganz pragmatistische Perspektive ein und betont, dass die Lüge dem Menschen nichts per se Böses ist, selbst wenn es sich nicht um eine Notlüge handelt: „Die Menschen fliehen dabei das Betrogenwerden nicht so sehr als das Beschädigtwerden durch Betrug: sie hassen […] im Grunde nicht die Täuschung, sondern die schlimmen feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschungen.“

Täuschungen begegnen uns im sozialen und kulturellen Bereich aber teilweise sogar als reizvolles Phänomen. Da, wo unsere Optik uns einen Streich spielt, zum Beispiel: „Lügende“ Wahrnehmung bzw. optische Täuschungen. Faszinierend ist das, wenn man weiß, dass etwas anderes „da“ ist als das, was man wahrnimmt; wenn der eigene körperliche Sinnesapparat verunsichert wird und uns ein Bild der Welt schafft, das flimmert oder sich windet oder wandert, obwohl es stillsteht. Ein Bild, das abwechselnd zwei Dinge ist, obwohl es eins ist, das je nach Blickfixierung mal mehr, mal weniger Formen sichtbar werden lässt.

Auch der Kunstgriff für viele Witze besteht im Prinzip der Täuschung: „Meine Frau hat mich beschuldigt ein Transvestit zu sein. Also habe ich ihre Sachen gepackt und bin gegangen.“ Der erste Teil des Witzes bringt uns dazu, an eine bestimmte Realität (dass der Erzähler zu unrecht beschuldigt wird und kein Transvestit ist) zu glauben, die im zweiten Teil indirekt als irrig enttarnt wird (denn seine Aussage lässt indirekt darauf schließen, dass er doch ein Transvestit ist). So titelt die Zeit: „Linguisten wissen, warum wir über Witze kichern. Der Scherz lebt vom Widerspruch.“

Und noch ein letzter Vergleich: Der Sprachphilosoph Searle behandelt etwas, das auch eine Art Abweichung, ein abweichendes Sprechen ist: Bei Äußerungen, die dem Gegenüber eine Botschaft vermitteln, die so dem Gesagten rein inhaltlich nicht zu entnehmen ist, spricht man von „indirekten Sprechakten“. Ein gewöhnlicher bzw. direkter Sprechakt kann zum Beispiel behauptend („Dies ist ein Text“) oder auffordernd („Geh, lese den Text!“) oder versprechend („Ich schwöre, diesen Text zu Ende zu schreiben“) sein. Indirekte Sprechakte haben die Form eines solchen „normalen“ Sprechakts, tun aber etwas anderes bzw. lösen beim Gegenüber eine andere Reaktion aus. Gern zitiert wird hier das Beispiel einer Passantin, die fragt: „Entschuldigen Sie, haben Sie eine Uhr?“ damit aber erwirkt, dass der Angesprochene nicht etwa mit „Ja“ oder „Nein“ antwortet, sondern eine Auskunft über die Uhrzeit gibt. Derlei Interaktionen funktionieren, weil sie einer Konvention folgen. Weil wir wissen und gelernt haben, wie man einander zu verstehen hat. Der besondere Zweck solch indirekter Formen von Äußerungen ist meist: Höflichkeit. Diese dient der Gesichtswahrung der Interagierenden im Gespräch (Goffman1). Man sagt nicht genau das, was man meint oder eigentlich will. So umgehen wir etwa unangenehme Wahrheiten.

Der Reiz des Indirekten

Die gerade genannten sind alles Phänomene unseres Alltags, die mit Täuschung oder mit Indirektheit arbeiten. Das indirekte Sprechen ist etwas, was uns durchaus geläufig ist, womit wir also prinzipiell umgehen können. Wir kennen solche Modi der „Uneigentlichkeit“ und wir schätzen sie. Diese Dinge sind natürlich nichts politisch und gesellschaftlich Brenzliges, sondern vielmehr etwas, was unserer Gesellschaft zuträglich ist, die Interaktionen zwischen den Individuen regelt und bereichert. Aber darin drückt sich eine Wahrheit über die Gestaltung unserer Kommunikation und über unseren Umgang mit Wahrheit aus: wir sind da flexibel. Und wenn mal jemand was „falsches“ sagt, kann es dafür Gründe geben. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Phänomenen der Uneigentlichkeit und den alternative facts ist allerdings, dass wir es mit Formen von Täuschung zu tun haben, über die wir aufgeklärt sind. Wir lachen über den Witz, gerade weil wir den Widerspruch erkennen; wir starren gebannt auf das Punktebild, weil wir nach der Täuschung suchen und wir wissen, dass es eine Floskel ist, wenn wir fragen, ob es gut geht und der*die Andere schlicht bejaht.

Trotzdem gilt: „Trump hat im 21. Jahrhundert etwas über die Erkenntnistheorie entdeckt. Die Wahrheit mag richtig sein, aber die Lüge funktioniert oft besser.“3 Im ersten Moment ist es eine Täuschung. Wenn dann aber über Fakten gesprochen wird und die Täuschung als das Angebot von alternative facts deklariert wird, bewegen wir uns genau an der Schnittstelle von Aufklären über Fakten und Setzen einer neuen, anderen Realität. Die alternative facts generieren unglaublich viel mediale Aufmerksamkeit und sind bezeichnend für die populistische Strategie. Und da ist er auch wieder, der Reiz der Lüge, nur in einer neuen Form. Trump sagt selbst, er könne sich alles erlauben. So auch alternative facts. Und er ist erfolgreich damit. Selbst oder gerade die aufgeklärte Lüge schillert und zieht Aufmerksamkeit auf sich.

Eine reizvolle Wahrheit!

Ich habe bewusst versucht, der Lüge wohlwollend zu begegnen, sie nicht von vornherein zu verteufeln. Denn die Dynamik der Lüge ist raffiniert und erfolgreich und was in unserer Welt Erfolg hat, hat Macht und das schafft man nicht widerstandslos ab. Man muss ihr zuhören und die Dynamik durchdringen, um ihr etwas genauso kluges und dynamisches entgegensetzen zu können. Nicht nur wahr, sondern auch faszinierend muss es sein. Neben Nietzsche ist auch Arnold skeptisch gegenüber intellektuellem Gehabe als Reaktion auf alternative facts:

„Die aufgeklärten Argumentationen werden […] häufig auch als arrogant und dominant – auf alle Fälle: infrage stellend – erlebt und entsprechend abgelehnt. Die naheliegende Lösung, die Lüge mit eindeutigen Beweisen zu widerlegen, droht deshalb bisweilen das Symptom selbst eher zu stärken als zu überwinden.“

Arnold, Rolf (2018: 17) Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens.

Was fangen wir mit diesem Reiz der Lüge an? Nur die Wahrheit zu sagen und zum Fakten-Denken zu ermahnen, das wäre wohl zu einfach. Wahrheit ist etwas Gemachtes – 1. Stufe –, Lüge versteckt sich im Wahrheitsmantel und macht dabei etwas Anderes, etwas komplexeres – 2. Stufe – und das, was die Lüge torpediert, muss wohl etwas noch Größeres sein. Etwas Gemachtes der 3. Stufe, das ebenso öffentlichkeitswirksam ist wie Wahrheit (Information) und Lüge (Fehlinformation) es sind. Was könnte das sein? Auf jeden Fall muss man es „machen“. Ein wenig Zuckerwasser in den trockenen Mund!

Hashtag der Woche: #widewidewiesiemirgefällt


(Beitragsbild: @elijahsad)

1 Ich lege die Lektüre dieses kleinen Gratis-Kapitels dem*der (Philosophie- und Wahrheits-)interessierten Leser*in ans Herz; es ist ein niedlich erhellender Text mit vielen verwörtlichten Bildern/Metaphern.
2 Goffman, Erving (1967): On Face-Work. An Analysis of Ritual Elements in Social Interaction. In: Ders.: Interaction Ritual. New York: Doubleday, S. 5-45.
3Time Magazin April 2017 (zitiert nach Arnold, Rolf (2018: 12): Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens. Heidelberg: Carl Auer.

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carina krieger

arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim und studiert germanistische Linguistik und Philosophie in Heidelberg. Weis- und Wahrheiten isst sie sezierend mit Messer und Gabel. Neben Sprachlichem und abstrakten Denk-Dingen liebt sie ihr Pony.

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