Im Anschluss an Virginia Woolfs Roman „Orlando“ und Judith Butlers Subjekttheorie denkt Franca Spies über die Rolle der Frau* in der Kirche nach.

Als Orlando, ein junger Adliger und Diplomat für das englische Königshaus in Konstantinopel, eines Morgens aus ruhigen Träumen erwacht, findet er sich in seinem Bett zu einer Frau verwandelt. Anders als man vermuten sollte, scheint ihn*sie dieses einschneidende Ereignis zunächst kaum zu interessieren. Die schöne Orlando, die als junger Knabe am Hof Elisabeths I. residierte und deren Lebensgeschichte sich über etwa 350 Jahre spannt, wird sich ihrer neuen Rolle erst bewusst, als sie — erstmals in Frauenkleidung — auf der Enamoured Lady zurück nach England reist und ihr kurzzeitig entblößter Knöchel beinahe den Tod eines Seemanns verursacht. In der alten Heimat angekommen, findet sie bald Gefallen daran, die großen Autoren der nun erreichten Zeit — allen voran Alexander Pope — beim Tee zu unterhalten, bis ihr bewusst wird, dass sie, wohl aufgrund ihres Geschlechts, unter ihnen nicht als Gleichrangige angesehen wird.

So beginnt Orlando, die Geschlechterrollen zu performen wie eine Schauspielerin: Wann immer sie das Frausein nicht mehr aushält, verkleidet und benimmt sie sich wie ein Gentleman — aufgrund ihrer Vergangenheit fällt ihr diese Verwandlung kaum schwer. Als Frau geht sie stets mit den Moden der Zeit, auch durch das viktorianische England, das ihr mit seinen schweren Reifröcken und der vermeintlich natürlichen Scham der Frauen so gar nicht gefallen will.

„Ceterum censeo“ oder: Die Macht der Wiederholung

Wie entsteht eigentlich Identität? Diese Frage zieht sich durch Virginia Woolfs Roman „Orlando. A Biography“ (1928)1 wie ein roter Faden. Eine erste Antwort wäre: Identität, auch geschlechtliche Identität, ist etwas, das man tut. Es ist ein Spiel der Wiederholung von Vorgegebenem. Kleidungs- und Sprachstil, Mimik und Gestik, Denk- und Verhaltensmuster: Menschen beobachten ihre Umwelt und imitieren — bewusst oder unbewusst — in ihrem Selbstvollzug bekannte (und oft idealisierte) Bilder.

Judith Butler erzählt in einem Interview humorvoll von ihrer Familie, die mehrere Kinos in Cleveland betrieb: Assimilation, so sagt sie, habe damals häufig bedeutet, sich an (Geschlechter-)Rollen anzupassen, die man bevorzugt Hollywood-Filmen entnahm.

So my grandmother slowly but surely became Helen Hayes. And my mother slowly but surely became kinda Joan Crawford. And my grandfather, I think — maybe he was Clark Gable or Omar Sharif oder something like this.

Ihre Familie habe versucht, Hollywood-Normen zu verkörpern, habe dabei Erfolge verzeichnet, sei jedoch auch immer wieder daran gescheitert. Die Parallele zu Orlando, die durch die Imitation vorgefertigter Muster ihre gesellschaftliche Rolle auslebt, liegt auf der Hand.

Unterwerfung und Performativität

Das Scheitern an den Ansprüchen einer Rolle zeigt bereits ein zweites: Wir tun Identität nicht nur, sie passiert uns auch. Noch bevor irgendein Subjekt aktiv irgendetwas wiederholen kann, steht es schon in sozialen Zusammenhängen, die die Möglichkeiten der Wiederholung zunächst bestimmen und einschränken. Subjektivierung beschreibt nicht einfach den aktiven Vorgang der Selbstwerdung des Subjekts, sondern auch den passiven Vorgang seiner Unterwerfung unter Vorgegebenes (sub-iectum).2

Orlando kommt ihre „neue“ Identität ab dem Zeitpunkt zu, ab dem sie sich in das Rollenbild der damaligen Dame fügt. Sie verändert sich, weil und je mehr sich die Welt ihr gegenüber verändert. Sie trägt die Frauenkleidung nicht nur, die Kleidung trägt auch sie und macht sie zur Frau. Eine (gegebene) Rolle spielt man nicht einfach unberührt.

Das bedeutet aber weiterhin, dass die Art und Weise, wie Menschen Rollen spielen, wie sie performen, eine Reihe von Effekten hervorruft. Es verwundert kaum, dass die regelmäßige Wiederholung von gesellschaftlichen Normen diese Normen immer weiter zementiert. So leisten wir fleißig die „geschichtliche[] Verewigungsarbeit“3 endlicher Überzeugungen — weiß Gott nicht nur im Hinblick auf Geschlechterrollen. Soziale Rollen werden zunehmend konkretisiert oder konsolidiert und wirken als solche wieder neu auf das Subjekt ein, das sie ausfüllt. Wir performen Rollen nicht nur, wir performieren sie.

Subversion statt Revolution

Der Akt der Imitation weist ein hohes subversives Potential auf. Wer wiederholt, kann auch verändern: beispielsweise durch eine parodistische Imitation von Rollen, die nicht die eigenen sind.4 Darin wird die Rollenhaftigkeit der Rolle illustriert — durch eine Imitation, die zeigt, wie sehr sie von Zuschreibungen und Interpretationen lebt. Die als Gentleman verkleidete Orlando macht das vor. Doch bildet dieser recht radikale Akt der Rollenparodie nicht die einzige subversive Option. Auch einem schrittweisen Verschieben der sozialen Wirklichkeit, einer Imitation gesellschaftlicher Vorgaben mit Variationen, müssen performative Effekte zugetraut werden. Denn schließlich konstituiert das Tun einer Rolle ihre sozialen Voraussetzungen immer neu.

Was Judith Butler, deren Philosophie viele dieser Gedanken entstammen, nicht vor Augen hat, ist eine Revolution als (gewaltsame) Umkehrung der Machtverhältnisse. Das mag Frustpotential enthalten, muss es doch ohne die Utopie einer perfekten Gesellschaft und ohne eine schnelle Problemlösung durch Erfüllung derselben auskommen. Dafür bewahrt die subversive Machtverschiebung vor einem vereinfachten Mechanismus, der sich vom Niedergang einer bestimmten sozialen Konfiguration die innerweltliche Erlösung erhofft. Gerechtigkeit wird stattdessen zum kontinuierlichen Anspruch, den es unter veränderten Machtkonstellationen immer wieder zu reflektieren gilt. Außerdem macht die Praktikabilität den Reiz der Subversion aus: Bei bleibenden, weil festgefahrenen Herrschaftsverhältnissen besteht stets die Chance zur Veränderung durch das imitierende, variierende oder gar parodierende Doing und Undoing (Butler) sozialer Rollen.

Kirche, Frauen* und andere Probleme

Man ist nicht als Katholikin geboren, man wird es. In dieser Passivität stehen Frauen* (übrigens ebenso wie männliche Laien, Lesben, Schwule und alle anderen katholischen „Problembär*innen“; tatsächlich aber auch Priester) in der Kirche zunächst unvermeidlich: Ehe sie irgendeinen Akt des Katholischseins bewusst vollziehen können, hat die Macht der Institution ihnen schon erklärt, was sie sind und sein sollen. Was jedoch eine „Katholikin“ (ein Laie, ein Schwuler, eine Lesbe, ein Priester etc.) zukünftig sein wird, konstituiert sich auch dadurch, wie das „Katholischsein“ immer wieder getan wird.

Plastischer: Frauen* stünden heute anders da, hätte es die Suffragettes, Simone de Beauvoir oder „Me too“ nicht gegeben. Das Zusammenleben in den USA sähe heute anders aus, wäre Rosa Parks im Bus nicht sitzen geblieben. Und Katholikinnen können künftig anders Katholikinnen sein, wenn es heute Diskursverschieber*innen und Selbstermächtiger*innen gibt, die ihre Rolle mutig, kreativ, hartnäckig und wenn möglich humorvoll ausfüllen und transformieren.

Hashtag der Woche: #doingchurch


(Beitragsbild: @itsbluestudio)

1 Virginia Woolf, Orlando – A Biography, London 1928.

2 Vgl. Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt (8. Aufl.) 2015, 8ff.

3 Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt 2005, 144.

4 Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies, Frankfurt (18. Aufl.) 2016, 209-218.

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franca spies

studierte katholische Theologie in Freiburg und Jerusalem. Nach ihrer Promotion in Freiburg arbeitet sie nun in der Fundamentaltheologie an der Universität Luzern. 2016 hat sie y-nachten mitgegründet und gehört bis heute der Redaktion an.

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