Die MHG-Studie steht nach wie vor in der Diskussion. Im kürzlich erschienenen Sammelband „Unheilige Theologie!“ gehen Theolog*innen der Frage nach, welche Theologiekonzepte missbrauchsbegünstigend gewirkt haben. Dr. Benedikt Schmidt gibt einen Überblick.

Vorweg: Spoiler-Entwarnung! Wer dies liest, wird nicht umhin kommen, einen Blick in das neueste Buch der Reihe „Katholizismus im Umbruch“ zu werfen. Wer eine Zusammenfassung der zentralen Gedanken erwartet, den muss ich leider enttäuschen; wer Lust auf Mehr erhalten will, der möge weiterlesen.

Unter der Herausgeberschaft von Magnus Striet und Rita Werden haben sich sechs Theolog*innen mit der Thematik der sexualisierten Gewalt gegen Minderjährige durch Priester auseinandergesetzt – dem (ethisch) brisantesten Problem, mit dem die katholische Kirche derzeit zu kämpfen hat und bei dem gegenwärtig unabsehbar ist, wie eine akzeptable Bewältigung aussehen könnte.

Verstehen und Aufklären sind die Grundanliegen des vorliegenden Buchs. Gefragt wird, welche genuin theologischen Vorstellungen missbrauchsbegünstigend gewirkt haben. Es geht also um eine kritische Selbstaufklärung: Unheilige Theologie! Diese Selbstkritik ist ethisch dringend geboten, da der Verdacht im Raum steht, dass gewisse Überzeugungen und Selbstverständnisse der katholisch-theologischen Welt, die systemintern vielleicht plausibel erscheinen, ein Verhalten befördert haben, das moralisch in keiner Weise gebilligt werden kann. Will man verstehen, wie es zu der erschreckenden Anzahl an Missbrauchsfällen kommen konnte, und soll dem in Zukunft vorgebeugt werden, dann sind eine theologische Selbstaufklärung und – dieses Ergebnis aus der Lektüre des Buches sei verraten – auch eine theologische Selbstrevision unumgänglich. Die Theologie schuldet dies mindestens den moralischen Ansprüchen der Opfer – welche kirchlich-praktischen Konsequenzen gezogen werden, steht allerdings noch auf einem anderen Blatt.

In der theologischen Ursachenforschung wird beitragsübergreifend die Einsicht herausgestellt, dass gerade dann sich missbrauchsbefördernde theologische Denkwelten herausgebildet haben, wenn diese als Kontrastfolien ‘zur Welt’ etabliert wurden. Positiv gewendet: Theologie ist dann gute Theologie, wenn sie eben nicht versucht, ‘reine’ Theologie zu sein. Der Sonderraum der heiligen Theologie wird hingegen durch die von ihm begünstigten moralischen Abgründe zur unheiligen Theologie. Entsprechend fordert Striet im Vorwort eine entschiedenere interdisziplinäre Ausrichtung der Theologie und eine stärkere Rezeption empirischer Forschungsergebnisse – dem Kontext entsprechend insbesondere sexualwissenschaftlicher Art – von der katholischen Kirche.

Die Verfasser*innen stellen in ihren Beiträgen einige starke Thesen auf, die dadurch an Brisanz gewinnen, dass sie sich mit zentralen theologischen Denkfiguren auseinandersetzen, die für die Wirklichkeit der katholischen Kirche von immenser Bedeutung sind und nicht lediglich Randerscheinungen darstellen. Die missbrauchsbegünstigenden Faktoren sind nicht allein in verfehlten Auffassungen von Einzelpersonen zu suchen, sondern sind systembedingt, d.h. in den Grundvorstellungen der kirchlich-theologischen Welt selbst verankert. Revisionen erfordern eine entsprechende Eingriffstiefe.

Der Thematik entsprechend verwundert es nicht, dass es sich bei den Autor*innen der Beiträge vornehmlich um systematische Theolog*innen handelt. Die Ausnahme bildet Hubertus Lutterbach (Universität Duisburg-Essen), dessen Beitrag historisch fundiert, in den systematischen Konsequenzen aber nicht weniger aufschlussreich ist. Dabei setzt er sich mit der Problematik kultischer Reinheitsvorstellungen auseinander, die in der katholischen Kirche lange Zeit einen exklusiven Stand für Mönche, Priester und Kinder geschaffen haben.

Das Wissen um die kultische Reinheit als ein dem Klerus inhärentes (Struktur-) Merkmal könnte somit ein weiterer ‘Push’ zugunsten einer institutionalisierten laikalen Rechtskultur sein, an der es im Raum der Kirche in unterschiedlichen Bereichen fehlt. (Lutterbach, 195)

Unter Zuhilfenahme der von Michel Foucault vorgelegten Untersuchungen zur Disziplinarmacht setzt sich Gunda Werner (Universität Graz) kritisch mit der Sündentheologie der katholischen Kirche und ihrer praktischen strukturellen Ausformung auseinander.

Die Reglementierung des Lebens durch die wöchentliche Beichte […] sowie die uneingeschränkte Machtdisposition der heiligen Kirche gegenüber dem als Sünder figurierten Gläubigen kann in den Auswirkungen einer lebenslangen Abhängigkeit und der eigenen Sündigkeit kaum überschätzt werden. (Werner, 156)

Stephan Goertz (Universität Mainz) analysiert mutmaßliche Zusammenhänge zwischen dem sexuellen Missbrauch und der katholischen Sexualmoral. Diese verhindere oft die Ausbildung einer reifen sexuellen Identität und auch der traditionellen katholischen Moraltheologie fehle es zur Beurteilung menschlicher Sexualität an personalen Kriterien.

Die von Tätern und Opfern gemeinsam bewohnte Welt katholischer Sexualmoral begünstigt das verschämte Verschweigen sexuellen Missbrauchs. (Goertz, 121)

Und weiter:

Ohne das eindeutige Bekenntnis zur sexuellen Selbstbestimmung bleibt der kirchliche Umgang mit den Betroffenen sexueller Gewalt mit dem Verdacht behaftet, das ihnen zugefügt Unrecht als solches nicht angemessen zu begreifen. (Goertz, 132)

Einen den Missbrauch begünstigenden Faktor sieht Georg Essen (Universität Bochum) darin, dass das kirchliche Amtsverständnis eine Sakralisierung und Auratisierung des Priesterbildes befördert habe, wobei das Ideal des Priesters zugleich der sich selbst hingebende, heilige und asexuelle Mann sei. Durch ein Verständnis vom geweihten Priester als das Messopfer vollziehender Person komme ihm zudem eine ihn von den ‘normalen’ Menschen entrückende Sonderstellung zu.

Wenn sich diese wesentlichen Komponenten des Priesterbildes dann auch noch mit entsprechenden zölibatären Enthaltsamkeitsforderungen vermischen, dürfte die Dynamik des Pathologischen freigesetzt sein. (Essen, 105).

Vor dem Hintergrund der sehr erhellenden Unterscheidung von Scham- und Schuldkultur analysiert Rita Werden (Universität Freiburg) verschiedene bischöfliche Stellungnahmen zum sexuellen Missbrauch. Die dortige Rede von der Scham verdecke die Frage nach personaler Schuld und moralischer Verantwortung und könne durchaus als eine Form der Vertuschung und Selbstimmunisierung angesehen werden.

Die Kirche als Zeichen und Werkzeug Gottes darf in dieser Logik nicht als derart sündig erscheinen, nach außen in jedem Fall nicht, vielleicht dürfen es ihre geweihten Mitglieder auch nicht vor sich selbst. (Werden, 75).

Querschnittsartig zu den Schwerpunktsetzungen der anderen Beiträge benennt Magnus Striet (Universität Freiburg) eine Vielzahl an theologischen Faktoren, die dem sexuellen Missbrauch Vorschub geleistet haben. Dabei kritisiert er u.a., dass die eingangs benannte notwendige Selbstaufklärung lange Zeit vom Lehramt der katholischen Kirche konsequent verweigert wurde.

Bekämen die Opfer eine Stimme in der Kirche, würden sie zum locus theologicus werden dürfen, so würde man lehramtlich eine andere Theologie fordern als die, die bis heute die Lehre und die liturgische Sprache bestimmt. (Striet, 40)

Bereits die schlaglichtartige Beleuchtung einiger Aspekte aus den insgesamt sechs Beiträgen dürfte deutlich gemacht haben, dass es sich nicht um eine Aufarbeitung theologischer Randphänomene handelt. Welche Alternativen zu einer unheiligen Theologie im Raum stehen, wird im vorliegenden Buch perspektivisch angedeutet, stellt insgesamt aber die große Herausforderung für eine moralisch zukunftsfähige Theologie und katholische Kirche dar.

Hashtag: #selbstaufklärung


(Beitragsbild: @MustBeMrE)

Dem Autor wurde vom Verlag Herder ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Magnus Striet / Rita Werden (Hg.), Unheilige Theologie. Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester (Katholizismus im Umbruch 9), Freiburg 2019.

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dr. benedikt schmidt

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Bonn. Derzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zum Thema "Selbstliebe und Selbstsorge".

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