Michel Houellebecq provoziert und ironisiert – und gehört zu den polarisierenden Autor*innen unserer Zeit. Dennoch und – wie üblich – genau deshalb macht sich Daniel Kuran mit Houellebecq auf die Suche nach der Bedeutung von Identität und Transzendenz in religiösen Phänomenen.

Religion gehört zu den Phänomenen, die Identität stiften und diese sogar unverwüstlich gegen alle äußeren Einflüsse festigen können. Umso wichtiger ist es, an die fundamentale Nicht-Identität zu erinnern, die am Ursprung jeder Religion steht – vor allem in Zeiten, in denen Religion und religiöse Ausdrucksformen für unterschiedlichste Identitätskonstruktionen in Dienst genommen werden. Eine Form, die über alle fixierten Identitäten hinausgeht, heißt Transzendenz. Die ist kompliziert und ernst, wird aber meist nicht mehr ernst genommen.

Kann aber vielleicht auch die weniger ernste Ironie unverzichtbar für die Religion sein? Was verbindet Transzendenz und Ironie miteinander? Und was kann man von Michel Houellebecq, einem der strittigsten Komödianten unserer Gesellschaft, über Religion lernen?

Houellebecq nicht nur von Kritiker*innen zerrissen

Wer sich bei Houellebecq durch manche – zugegeben – den Magen mehrmals umdrehende Szenen wagt, wird sehr originelle Züge entdecken. In seinem preisgekrönten Roman Karte und Gebiet1, wird der „Tod des Autors“ auf eine neue Ebene verschoben. Anstatt den*die Autor*in ganz zugunsten des Werkes zu verabschieden, tritt der Autor Houellebecq selbst in seinem Werk auf, um dort kaltblütig ermordet zu werden, indem er in kleine Stücke geschnitten und von seinem Mörder in Form eines Gemäldes, also eines Werkes, neu „ausgelegt“ wird – womit das Verhältnis von Autor*in und Werk nur im Werk selbst entschieden werden kann.

Eine wiederkehrende Strategie bei Houellebecq ist die Darstellung der Instabilität von anthropologischen Kategorien wie Tod, Leben, Kindheit, Arbeit, Sexualität unter gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Keine dieser Kategorien erweist sich als Konstante und jede droht in hypertropher Übersteigerung ihre Grenze zu verlieren.

Nicht selten spielt Religion eine wichtige Rolle in Houellebecqs Werken, genauer: eine Religion, die sich von allen Formen von Transzendenz losgelöst hat. Eine Religion, die keine Transzendenz als kritische Korrektur mehr kennt, kann vollkommen angeeignet und mit ihr jede beliebige Identität gestützt werden.

Wir lebten in einer Zeit, in der jeder Messias, jede Apokalypse möglich waren.2

Die Möglichkeit einer Insel und die Möglichkeit einer Religion

Nicht nur bei seinem letzten Buch Serotonin wurde Houellebecq mit einem Propheten verglichen, der gewisse Ereignisse wie die Gelbwesten-Bewegung vorhergesehen habe. Dem ist jedoch zu widersprechen, weil Houellebecqs Werke, selbst die dystopischen, stets der gegenwärtigen Welt verpflichtet sind. Wenn schon kein Prophet, so finden sich biblische Elemente allemal in seinen Werk-Kompositionen. Das wird besonders an dem theologisch vielleicht interessantesten Buch Die Möglichkeit einer Insel deutlich.

In diesem Roman begegnet man der eigenartigen Sekte der „Elohimiten“, deren Anhänger*innen auf jede transzendente Bedeutung ihrer Botschaft verzichten, mit szientistischem Eifer lediglich die biologische Unsterblichkeit erreichen wollen. An den Elohimit*innen, die im Grunde die genaue Verkehrung einer Religion darstellen, führt Houellebecq dennoch die unüberschaubaren Prozesse einer Religionsgründung im 21. Jahrhundert vor. Deren Ziel ist die absolute Konservierung der eigenen Identität mittels einer Klon-Technik. Was wie ein billiger Science Fiction Roman klingt, wird durch seine ausgeklügelte Komposition literarisch interessant: Nachdem sich die Elohimit*innen in der westlichen Welt durchsetzen, verbringen die von ihnen erzeugten Klone (genannt Neo-Menschen) noch zweitausend Jahre später ihr Leben lang damit, die Lebensberichte ihrer Vorgänger*innen zu studieren, zu interpretieren und zu kommentieren. Das Buch enthält – damit die Zählung der Bibelverse verfremdend – den Lebensbericht der zeitgenössischen Hauptfigur Daniel (unterteilt in 1,1-27), in den auf einer zweiten Zeitebene die Kommentare der Klone Daniel 24 und Daniel 25 eingefügt sind. Dadurch wird den Leser*innen plötzlich ein biblischer Blick auf die eigene Gegenwart möglich. Wie ein sakraler Text bestimmen die Lebensberichte, die über Jahrhunderte kommentiert und studiert werden, das Dasein der Neo-Menschen. Hierbei besteht die Transzendenz jedoch gerade in der Erfahrung der Endlichkeit, welche den Kommentator*innen, deren Leben auf Ewigkeit konservierbar ist, immer mehr entgleitet. Präsentiert wird also eine Welt, in der das Unendliche entziffert, das Endliche aber zur unentzifferbaren Chiffre geworden ist.

Der Protagonist des Buches ist bezeichnenderweise ein zynischer Komödienautor, der in seinen Stücken alle Grenzen des guten Geschmacks verlässt und jede noch mögliche Verbindlichkeit schamlos zerlacht. Bis die Menschheit zusammenbricht, weil auch das Lachen zerlacht wird:

nein, ich ertrug das Lachen nicht mehr, das Lachen als solches, diese plötzliche, heftige Verzerrung des Gesichts, die ihm augenblicklich alle Würde nimmt.3

Houellebecqs Neo-Menschen haben mit ihrem pseudo-religiösen Unsterblichkeitsideal völlig ernst gemacht und den Erhalt ihrer Identität somit zum höchsten Gott erhoben. Sie lesen zur Beruhigung nur noch Spinoza, ihre Sprache entbehrt jeder transzendenten und jeder ironischen Brechung, alles Gesagte ist so auch gemeint und sie können sich dem Menschlichen nur mehr schwach annähern: So heißt es in Daniel 24,4:

[…] diese urplötzliche, von einem spezifischen Glucksen begleitete Verzerrung des Gesichtsausdrucks, die er [Daniel 1, Anm.] Lachen nannte, kann ich nicht nachvollziehen; […] Einige meiner Vorgänger wie Daniel 13 drücken in ihrem Kommentar eine seltsame Nostalgie über diesen doppelten Verlust aus;4

Houellebecqs Dystopie über die Elohimit*innen lässt einen Umkehrschluss zu: Eine Religion, die sich selbst vollkommen und unmittelbar ernst nimmt, ist keine Religion mehr, weil sie kein Ausdruck menschlichen Daseins mehr zu sein vermag. In der Komödie, deren Verlust im Zynismus Houellebecq vor Augen führt, entpuppt sich somit eine unerwartete Bedingung des Humanen.

Worauf Ironie verpflichtet

Im Unterschied zum Zynismus kennt die Ironie aber eine ethische Forderung, von der sie nicht zu trennen ist. Den Zynismus, zu dem die Ironie werden kann, kritisiert etwa Hegel (wobei er an romantische Ironie-Auffassungen seiner Zeit denkt) als ein

Bewußtsein, in welchem Ich das Höchste untergehen lasse, nur mich genieße.5

Der Zynismus verwirft also sein Objekt, um seine eigene Erhabenheit darüber zu genießen. Das Komödiantische dagegen hat mit dem Fallen der Ich-Maske zu tun, hinter der eine Kontingenz zum Vorschein kommt, zu der man halten muss. Während der Zynismus dem von ihm Verworfenen die Treue aufkündigt, hält die Ironie seinem Gegenstand sogar in seiner größten Unvollkommenheit und Endlichkeit die Treue. Die Ironie identifiziert sich noch dazu genau mit dem, was keiner Identität mehr zu entsprechen vermag. Deshalb ist die Ironie immer ein notwendiges Gegenstück zur Transzendenz, weil sie an die Transzendenz des Endlichen glaubt.

Ironie in diesem Sinne führt deshalb nie zu einer bloßen Beliebigkeit, sondern enthält vielmehr, mit Guanzini gesprochen, eine Zärtlichkeit gegenüber dem Endlichen, die sich jeder Identitätslogik von vornherein entzieht, denn:

Unter dem Blick der Zärtlichkeit leuchtet das Endliche in seiner reinen Kontingenz durch, d.h. in seinem Sein, das auch nicht sein könnte, das zwischen Identität und Zerstreuung […] oszilliert.6

Das transzendente Moment in jeder Religion verlangt deshalb wohl auch immer nach einem ironischen Moment als dessen Gegenpol, um dem Endlichen die Treue zu halten, selbst dort, wo es seine Würde verliert.

Hashtag der Woche: #ironieverpflichtet


(Beitragsbild: Fronteiras do Pensamento – Michel Houellebecq no Fronteiras do Pensamento Porto Alegre 2016)
Lizenz: CC BY-SA 2.0

1 Michel Houellebecq, Karte und Gebiet, Köln 52017 [2010].

2 Michel Houellebecq, Lanzarote, Köln 2016 [2000], 66.

3 Michel Houellebecq, Die Möglichkeit einer Insel, Köln 22017 [2005], 52.

4 Ebd., 53f.

5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinie der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt am Main 142015, 279.

6 Isabella Guanzini, Die Zärtlichkeit des Endlichen. Ästhetik und Politik der elementaren Relationen, in: Kurt Appel / Jakob Helmut Deibl (Hg.), Barmherzigkeit und zärtliche Liebe. Das theologische Programm von Papst Franziskus, Freiburg / Basel / Wien 2016, 207-217, hier: 210.

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daniel kuran

ist Prae-doc-Assistent am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er studierte Philosophie und Geschichte in Wien und arbeitet am interdisziplinären Forschungszentrum Religion and Transformation in Contemporary Society an der Universität Wien.

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