Florian Henckel von Donnersmarcks „Werk ohne Autor“ beherrscht gerade die Kinoleinwände und kreist um die Frage nach dem Ort der Verarbeitung von Leid. Erlöst die Kunst und nicht die Religion? Benedikt Rediker geht dem Gedanken nach.
Splitternackt sitzt Tante Elisabeth vor dem Klavier und spielt in nahezu geistesabwesender Trance und zutiefst versunken in den Klang der Musik immer wieder denselben Ton. Der kleine Kurt betritt den Raum. Elisabeth erhebt sich und schlägt sich mit einer Glasschale auf den Kopf. Immer wieder. Um die Schönheit des Tons auf diese Weise zum Erklingen zu bringen. Kurt beobachtet die Szenerie mit einer Mischung aus erotischer Faszination und ungläubigem Schrecken. Schüchtern, den Kopf nach unten gesenkt und doch mit großen Augen angesichts der bizarren Schönheit seiner geliebten Tante, bewegt er sich langsam auf sie zu. Dass sie sich am Kopf verletzt hat, nimmt sie gar nicht wahr.
Sieh nicht weg, nie wegsehen, Kurt! Alles, was wahr ist, ist schön,
sagt sie zu ihm, als sie seine Anwesenheit bemerkt.
Es ist eine irritierende Szene, die am Anfang des Films „Werk ohne Autor“ von Oscarpreisträger Florian Henckel von Donnersmarck zu sehen ist. Und doch ist sie vielleicht die zentrale Szene des gesamten Films. Dieser kreist in geradezu exzessiver Weise um eine einzige Kernthematik: Was ist die Quelle großer Kunst und was ist ihre Funktion? Alle weiteren Themen, die deutsche Geschichte während des Nazi- und DDR-Regimes oder die zum Teil verarbeitete Biografie Gerhard Richters haben nur eine Funktion: Sie dienen als notwendiges Anschauungsmaterial, anhand dessen diese Frage in nahezu drei Stunden monumentalem Erzähl-Kino beantwortet werden soll. Die Antwort des Films ist in ultra-verdichteter Form in der gerade beschriebenen Szene enthalten. Alles, was dann folgt, ist eine sowohl auf Handlungs- als auch inszenatorischer Ebene genial durchkomponierte Explikation und Anwendung dieser Szene und des in ihr von Tante Elisabeth an ihren Neffen herangetragenen Satzes:
Alles, was wahr ist, ist schön.
Nietzsche und die ästhetische Rechtfertigung der Welt
Es war Friedrich Nietzsche, der vor allem in seinen frühen Schriften eine ganz ähnliche Theorie zur Bedeutung der Kunst entwickelt hat, die bei ihm im Gedanken einer ‚ästhetischen Rechtfertigung der Welt‘ kulminieren. Es ist nicht bekannt, ob Nietzsche bei der Entstehung des Drehbuchs Pate gestanden hat – die Parallelen sind zumindest unübersehbar. Nietzsche beanspruchte mit seiner frühen Ästhetik-Theorie nichts weniger als eine säkularisierte Form von Erlösungslehre, auch wenn er sich selbst gegen einen solchen Begriff strikt gewährt hätte. Gegen die theologisch unternommenen Versuche einer moralischen Rechtfertigung der Welt setzte Nietzsche eine ästhetische Bewältigung derselben, auch und vor allem in ihren Abgründen.
Nun will „Werk ohne Autor“ sicher keine neue Erlösungslehre propagieren. Und doch scheint es möglich, den Film als künstlerisch-experimentelle Versuchsanordnung zu lesen, die um die folgenden Fragen kreist: Gibt es Erlösung in der Kunst? Ist die Kunst – und nicht etwa die Religion – der zentrale Ort der produktiven Verarbeitung menschlichen Leids? Bedarf es vielleicht sogar des Leids, damit große Kunst entsteht? Spätestens bei der letzten Frage wird deutlich, wie heikel es vor allem in moralischer Hinsicht ist, diese Fragen zu stellen.
„Sieh nicht weg, nie wegsehen, Kurt!“
Die zentrale These, dass alles, was wahr ist, schön sei, wird im Film sowohl auf der Handlungsebene als auch in der hochästhetisierten Inszenierung durchgespielt. Henckel von Donnersmarck inszeniert das Heranwachsen seines Helden Kurt Barnert als Suche eines jungen Mannes nach seiner eigenen künstlerischen Identität. Dabei beherzigt Kurt von Beginn an den Rat seiner Tante. Als sie in brutaler Weise von den Nazis aus ihrem Haus abtransportiert wird, schiebt er die Hand weg, die ihm seine Mutter vor die Augen hält. Er möchte hinsehen, alles ihn Umgebende in sich aufsaugen. Kunst entsteht demnach in der radikalen Konfrontation mit der Welt, im kompromisslosen Hinschauen.
Entscheidend ist, dass das künstlerische Schaffen keine realistische Abbildung des real Erfahrenen ist, sondern eine perspektivische Um- und Neuinterpretation der äußeren Wirklichkeit impliziert. Dies erklärt Kurt später im Film selbst am Beispiel der Lottozahlen: Wenn er einfach so willkürlich ein paar Zahlen nenne, sei dies völlig bedeutungslos. Sobald man jedoch ergänze, dass es sich hierbei um die neuste Ziehung der Lottozahlen handele, bekämen diese Zahlen eine tiefere Bedeutung, einen eigenen Sinn. Genauso ist es mit der Kunst: Sie erschafft neue Wirklichkeiten, indem sie konkrete Erfahrungen in künstlerischen Formen verarbeitet und neu perspektiviert.
Das Dionysische und Leidvolle als Quelle künstlerischen Schaffens
Die Brisanz dieser künstlerischen Anverwandlung von Erlebtem liegt darin, dass es sich dabei vor allem um leidvolle und verletzende Erfahrungen handelt. Kurt muss miterleben, wie seine geliebte Tante von den Nazis abtransportiert wird und er muss die Demütigungen seines Schwiegervaters über sich ergehen lassen. All dies bewertet er nicht, er beobachtet es nur und erträgt es in einem für den Zuschauenden fast unerträglichen Stoizismus. Die Bewältigung dieser Ereignisse findet ausschließlich in der Produktion von Kunstwerken statt. In ihnen arbeitet er sich an seinen Erfahrungen ab und überwindet sie. Als Stimulans seines künstlerischen Schaffens verlieren diese Erfahrungen für ihn ihre moralische Anstößigkeit. Als Quelle des Schönen und somit Wahren erscheinen sie für ihn in ihrem Dasein gerechtfertigt.
Wieder ist es Nietzsche, der in seinem frühen Werk1 einen ähnlichen Zugang zur Entstehung von Kunst wählt. Es ist die Erfahrung des Dionysischen, des Rauschhaften, aber auch Schmerzhaften, das den Menschen zum künstlerischen Schaffen antreibt. In der Kunst, dem Apollinischen, verarbeitet er die Erfahrung des Dionysischen, das im direkten Kontakt für den Menschen unerträglich wäre und deshalb künstlerisch perspektiviert werden muss. Je enger sich die Kunst am Dionysischen befindet, desto wahrhaftiger und lebendiger ist sie. Nietzsches frühe Begeisterung für die heroische Musik Richard Wagners lässt sich durch diese Theorie erklären. Dabei sind es vor allem Erfahrungen radikaler Negativität, die das Dionysische ausmachen und die künstlerischen Prozesse befördern. Es ist die Möglichkeit, aus radikal negativer Erfahrung große Kunst entstehen zu lassen, die Nietzsche sogar den Gedanken einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt denken lässt.2 Eine größere Provokation theologischer Theodizee-Diskurse kann es kaum geben.
Der Film ist auch auf inszenatorischer Ebene zutiefst geprägt von einer verdichteten ästhetischen Verarbeitung dionysischer Elemente. Am eindrücklichsten und zugleich erschreckendsten wird dies an einer besonders brisanten Szene deutlich: Sie verquickt Bilder von der Bombardierung Dresdens mit dem Weg von Tante Elisabeth in die Gaskammer. Die Härte der in den Bildern gezeigten Realität wird durch den Schnitt, die Filmmusik und die Farbeffekte in ein Kunstwerk geformt, das selbst (oder gerade?) diese Geschehnisse zu einem ästhetischen Ereignis werden lässt. Sofort stellt sich die Frage: Darf man diese schrecklichen und in ihrer Brutalität kaum zu fassenden Geschehnisse in einer solch ästhetisierten Form inszenieren?
Geniale Kunst entsteht aus dem Schorf der Wunden, die das Leben geschlagen hat
Doch vielleicht ist es zielführender, die Problematik einer solchen Inszenierung zunächst aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Könnte es nicht sein, dass der Film uns in vielen Szenen mit einer säkularisierten Erlösungskonzeption konfrontiert? Kunst und kreatives Erschaffen ist vielleicht der Ort, an dem Menschen die Abgründe ihres Lebens produktiv verarbeiten können und zu einem ‚erlösten‘ Umgang mit ihnen finden können. Gefragt nach seiner Ansicht zum Entstehen von Kunst, antwortete Henckel von Donnersmarck in vielen Interviews mit einem Zitat des Künstlers Elia Kazan, nach dem Kunst aus dem Schorf der Wunden entstehe, die Menschen zugefügt worden seien.
Je größer die Wunden und der Schorf, desto größer die Kunst. Präziser kann man das oben vorgestellte nietzscheanische Motiv künstlerischen Schaffens kaum in die heutige Zeit übersetzen. Die Provokation dieser Theorie liegt nun gerade darin, dass sie eine moralische Betrachtung von Wirklichkeit und somit eine moralisch motivierte Kunst nahezu vollkommen ausschließen muss. Die Motivation zum künstlerischen Schaffen entsteht zu keiner Zeit aus moralischer Auflehnung oder Empörung, sondern stellt einen rein ästhetischen Akt dar. Auch hat Kunst selbst keinen moralischen Auftrag oder Wert. Eine durchaus provokante These!
Kunst als Ort der Erlösung in religionsfernen Zeiten?
Doch könnte es nicht sein, dass der Film hier ein Konzept von Leid- und Realitätsbewältigung durch Kunst in Szene setzt, das trotz seiner moralischen Streitbarkeit einiges an anthropologischer Plausibilität für sich beanspruchen kann? Natürlich darf schreckliches Leid niemals ästhetisch verharmlost werden! Vielmehr soll nur darauf hingewiesen werden, dass es ein menschliches Bedürfnis ist, bestimmte Leiderfahrungen auch ästhetisch zu verarbeiten. Gerade die theologische Tradition ist ein gutes Beispiel dafür, wie die mittelalterliche Leidensmystik mit ihren Bildern des gekreuzigten Schmerzensmannes zeigt. Eine höhere Ästhetisierung von Leid kann es kaum geben.
Der Film provoziert jedoch eine noch radikaler Frage: In einer Zeit, in der religiöse Erlösungstraditionen und die mit ihnen verbundenen Trostpotentiale immer mehr an Bedeutung verlieren, stellt er die (nicht nur theologisch unbequeme) Frage, aus welchen Quellen Menschen überhaupt noch Kraft schöpfen können, die Erfahrungen der Welt zu verarbeiten. Dass eine solche Quelle auch in einer ästhetischen Bewältigung des Daseins gefunden werden könnte, so wie dies immer der Fall war, macht der Film ohne weiteres klar – mit allen bedenklichen Konsequenzen, die dies auch haben mag.
Hashtag: #siehniemalsweg
(Beitragsbild: @quentinlagache)
1 Vgl. hier vor allem Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hrsg.): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1. München 1980.
1 Vgl. hierfür z.B. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 152.