Sozialleistung und ihre gerechte Verteilung ist ein Dauerthema des gesellschaftlichen Diskurses. Oft drehen sich diese Diskussionen um Zahlen; die Frage nach der Möglichkeit, ein Leben in Würde zu gestalten, kommt dabei beizeiten zu kurz. Ob der Staat barmherzig sein kann oder ob er Barmherzigkeit sogar braucht, fragt sich heute Florian Elsishans.

Dass Deutschland ein Sozialstaat ist, dessen Ziel „Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit“ (SGB I §1 (1)) ist und wir uns entweder auf seine Leistungen verlassen können, oder – im Glücksfall – durch unseren Beitrag diese Leistungen gewährleisten, scheint selbstverständlich. Um sie wird in politischen Diskussionen gerungen – zuletzt beispielsweise in der durch Rechtspopulist*innen instrumentalisierten Debatte um Sozialleistungen für Geflüchtete. In den Auseinandersetzungen darum, wie genau der besagte Sozialstaat sich versteht oder was sein Ziel ist, werden oft Buzzwords einer politischen Agenda mit teils konstruktiven, teils kontraproduktiven Vorschlägen vermischt. Wer jetzt noch die Debatte um Barmherzigkeit einbringt, läuft Gefahr weitere Verwirrung zu stiften. Es gilt zu differenzieren.

Kirchliche Innovation? Suprise!

In der Antike und im Mittelalter wurde Gerechtigkeit noch als individuelles Prinzip begriffen. Die hierfür viel aufgerufenen Zeugen Aristoteles und Thomas von Aquin sehen in der Frage nach Gerechtigkeit primär eine moralische Frage, für die nicht nur relevant ist, wie ein Individuum sich anderen Individuen gegenüber, sondern auch, ob es sich der staatlichen Ordnung gegenüber konform verhält. Erst durch den politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts kippte diese Deutung. Gesetze werden inzwischen nicht mehr als natürliches Datum, sondern als menschengemacht und damit wandelbar wahrgenommen. Gerechtigkeit wird interpretiert als Strukturprinzip, das auch auf staatlicher Ebene verwirklicht werden soll. Insbesondere wird dabei die Frage nach gerechter Güterverteilung gestellt. Auch die kirchliche Soziallehre formuliert – inspiriert durch gesellschaftliche Debatten – in der Enzyklika Quadragesimo Anno (1931) die Kirche als die Instanz, die „in sozialer Gerechtigkeit und sozialer Liebe die Gesellschaft […] erneuern“ (QA 126) will. Eine ausgearbeitete Theorie oder eine Begriffsklärung bleiben allerdings zunächst aus.

Beim Versuch einer inhaltlichen Füllung des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit wird, knapp ein halbes Jahrhundert später, ein Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA häufig rezipiert. In ihrem Brief Economic Justice for All manifestiert sich eine vieldiskutierte Haltung: Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist primär die Frage danach, welche Voraussetzungen nötig sind, um ein würdevolles Leben zu führen. Mit diesem Brief und seiner Rezeption prägt Kirche den Begriff Beteiligungsgerechtigkeit mit, der nicht mehr nur die Frage nach distributiver Gerechtigkeit stellt. 1

Diese Form der Gerechtigkeit ist es auch, die der deutsche Sozialstaat herzustellen versucht. In ihm entscheidet sich die Frage nach Fördernotwendigkeiten nicht allein anhand einer vermeintlich gerechten Verteilung von Gütern, sondern an den Voraussetzungen, die Bürger*innen des Staates haben. Wenn beispielsweise Schulmaterialien bei Kindern von ärmeren Familien subventioniert werden, ist nicht die Frage nach Güterverteilung die treibende Kraft, sondern, ob die Kinder ihrem Alter entsprechend angemessen leben können. Ob die Antwort auf diese Frage und ihre Konsequenzen den Situationen immer angemessen sind, ist sicherlich zu problematisieren. Die Prämissen eines gelingenden Lebens in den Blick nehmend, ist Beteiligungsgerechtigkeit der komplexen Situation einer Gesellschaft aber angemessener, als bloße gerechte Verteilung von Gütern.

Barmherzigkeit vs. Unsichtbare Hand

Es schwirren viele Definitionen von Barmherzigkeit umher, sowohl im kirchlichen Leben, als auch im wissenschaftlichen Diskurs. Beizeiten mag man das Gefühl bekommen, so manche*r Theolog*in oder kirchlicher Amtsträger vertrete die Ansicht, dass man beim Nennen des Wortes „Barmherzigkeit“ nichts falsch machen könne und damit im Zweifel immer ein überzeugendes Ass im Ärmel habe. Für eine saubere Definition des Begriffs hilft das allerdings nicht.

Eine hilfreiche Abgrenzung gegenüber dem oben etablierten Begriff der sozialen Gerechtigkeit als Strukturprinzip liefert beispielsweise die ganz dem Thema Barmherzigkeit gewidmete Enzyklika Dives in misericordia von 1980. Sie setzt Barmherzigkeit auf die Beziehungsebene zwischen Menschen, während die Frage nach Gerechtigkeit sich nur um äußere Belange kümmert. Dieser erste Schritt ist schon sehr hilfreich, fraglich ist allerdings, ob nicht auch ein an Beteiligunsgerechtigkeit orientiertes System versucht, angemessenes Beziehungsgeschehen zwischen Menschen zu ermöglichen. Die Enzyklika geht weiter und spricht davon, Barmherzigkeit brächte die Menschen dazu, „einander in dem Wert zu begegnen, den der Mensch selbst in der ihm eigenen Würde darstellt.“ (Dives in misericordia 14) Barmherzigkeit wird hier also als Prinzip und Moment individuellen Handelns begriffen und zeigt sich zum Beispiel im ehrenamtlichen Engagement in Vereinen, in denen Engagierte versuchen, Kindern die Teilnahme an einer gemeinsamen Ferienfreizeit zu ermöglichen, ungeachtet ihres Millieus.

Sichtbar wird die politische Dimension dieses individuellen Handlungsprinzips zum Beispiel an der in den letzten Jahren in Deutschland entflammten Debatte um ehrenamtliches Engagement von Bürger*innen. Wenn eine große Menge an Menschen aus persönlicher Motivation, Barmherzigkeit gar, Engagement zeigen und so Lücken in der Versorgung des Sozialstaates füllen, stellt sich die Frage, ob der Staat dieses Engagement ausreichend wertschätzt und unterstützt. Verlässt sich der Staat aber zu sehr auf die barmherzige Masse, ist dies dringend zu problematisieren. Das Ziel sozialer Gerechtigkeit stellt nämlich den Anspruch, diese Gerechtigkeit zum Strukturprinzip des Staates zu machen. Liberale Positionen gingen in der Problematisierung noch weiter: In einem zu Tode zitierten Satz erklärt Adam Smith sein Prinzip der unsichtbaren Hand und sagt, dass das Funktionieren eines Systems nicht vom Wohlwollen der Einzelpersonen abhängen dürfe; es müsse für alle gesorgt sein, auch wenn die Einzelpersonen aus je egoistischen Interessen handeln. Mit Smith könnte man meinen, zu viel Barmherzigkeit führe zum blinden Fleck in der Reflexion einer Struktur.

Und dennoch bezeichnet Benedikt XVI. in der Enzyklika Caritas in veritate die Liebe nicht nur als grundlegendes Prinzip der Mikrobeziehungen einer Gesellschaft, sondern auch der Makrostrukturen einer solchen. Denken wir das Konzept der Barmherzigkeit als Prinzip individuellen Handelns zu Ende, ist das politische Handeln nicht ausgenommen. Eine barmherzige Haltung könnte so also auch immensen Einfluss gewinnen, stellt man sich vor, dass gewisse politische Akteur*innen aus Barmherzigkeit heraus handeln. Plausibel erscheint dies besonders bei der Caritas, die als kirchlicher Wohlfahrtsverband dem Handeln aus Nächstenliebe verschrieben ist. Tatsächlich hat sie Verbesserungsvorschläge beispielsweise zu Hartz IV Regelungen bei Familien mit Kindern eingebracht.

Who cares?

Barmherzigkeit spielt also im sozialstaatlichen Gefüge insofern eine Rolle, als dass sie Motivation für politische Akteur*innen ist. Der Sozialstaat sollte allerdings schon allein wegen seines erklärten Ziels dafür sorgen, dass das Versorgen seiner Büger*innen nicht vom barmherzigen Handeln Einzelner abhängt. Dennoch kann Barmherzigkeit ein wichtiges Korrektiv sein. Wo Strukturen schwächeln, sind es Verbände oder Einzelpersonen, die durch barmherzigen Blick Verbesserungen vorschlagen und Änderungen einbringen können. Ein Ausspielen barmherziger Perspektiven oder daraus resultierenden Einschätzungen im politischen Diskurs ist daher aber nicht nur kontraproduktiv, sondern auch sachlich unsauber; Ziel dessen kann nämlich nicht das besondere Herausheben einer bedürftigen Gruppe, sondern nur das Erreichen einer sozialen Gerechtigkeit für alle sein.

Hashtag der Woche: #stateofmercy

1 Vgl. zu beiden Abschnitten: Küppers, Arnd: Soziale gerechtigkeit imVerständnis der Katholischen Soziallehre, in: Rauscher, Anton: Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, 165-174.


(Beitragsbild @katyukawa)

Literatur

Boeck, Jürgen; Huster, Ernst-Ulrich; Benz, Benjamin; Schütte, Johannes: Sozialpolitik in Deutschland: Eine systematische Einführung, Wiesbaden ⁴2017.

Kapser, Walter: Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg 2012.

Küppers, Arnd: Soziale gerechtigkeit imVerständnis der Katholischen Soziallehre, in: Rauscher, Anton: Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, 165-174.

Marx, Reinhard: Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen, München 2008.

Nothelle-Wildfeuer, Ursula: Die Sozialprinzipien der Katholischen Soziallehre, in: Rauscher, Anton: Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, 143-164.

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florian elsishans

studiert nach seinem Studium der Katholischen Theologie nun Jura an der Universität Freiburg. Besorgte Freund*innen fragen sich, ob er sie wirklich dauernd missversteht oder über zu viel poststrukturalistischer Lektüre den Verstand verloren hat. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit dem Schlagen persönlicher Fahrradbestzeiten und mit elektronischer Musik. 2016 hat er y-nachten mitgegründet und gehörte bis Dezember 2021 der Redaktion an.

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