In zwei Artikeln blickt Moritz Findeisen auf die Situation des Glaubens in der Moderne (hier geht es zum ersten Teil). Wenn ein Rückfall in vormoderne, falsche Gewissheiten ausgeschlossen werden soll, bleibt der „bescheidene Glaube“ als kontingente Gewissheit.
Wissen um das Dilemma der Moderne
Ein Unbehagen der Moderne gegenüber ist alles andere als verwunderlich. Der auf die Füße der Selbstaufklärung gestellte homo sapiens ist weit davon entfernt, die allgemeine Wohlfahrt der Menschheit verwirklicht zu haben – die offene Zukunft des endlichen Freiheitswesens entpuppte sich nur allzu oft als Tor ungeahnter Schrecken. Nicht erst mit Max Horkheimers und Theodor Adornos Dialektik der Aufklärung (1944) wurde breitenwirksam deutlich, dass sich die Moderne in dieser Hinsicht selbst zum Problem geworden ist. Namentlich durch die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts fand der für die Moderne charakteristische uneingeschränkte Fortschrittsglaube ein bitteres aber sicheres Ende. Dass der Mensch durch technische Entwicklung und soziale Perfektionierung alles vollbringen könne und das Ziel seiner Selbstverwirklichung in absehbarer Zeit auch erreichen würde, hat sich angesichts der Katastrophen zweier Weltkriege, durch Schoa und Gulag als Utopie im wahrsten Sinne des Wortes entpuppt – das vermeintlich Menschenmachbare ist nicht so ohne Weiteres machbar.
Die Liste der dystopischen Szenerien ließe sich ohne Mühe fortführen, vom Zusammenhang von fakenews und Entdemokratisierung der Gesellschaften, über die rasende digitale Revolution der Arbeitswelt und die demographische Explosion bis hin zur kaum mehr einzudämmenden Schädigung des globalen Ökosystems. Angesichts der Komplexität der weltweiten Problemgeflechte ist man versucht, mit Goethes Zauberlehrling auszurufen:
„Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los!“
Nun sei es fern, an dieser Stelle wehklagend den Abgesang der Moderne anzustimmen, oder gar – wie in gewissen kirchlichen Kreisen nicht unbeliebt – mit Rekurs auf die „Diktatur des Relativismus“ hämisch die Wiederbelebung der Vormoderne zu betreiben. Gegenüber der gern zitierten Unheilsprophetie Fjodor Dostojewskis: „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.“ ist mit Nachdruck zu betonen, dass kein direkter Weg von Gott zur Moral führt. Die moralische Sollensverpflichtung gründet im handelnden Subjekt – mag es auch noch so gefährdet und prekär sein. Deswegen kann allenfalls der Anspruch von Moralität das notwendige Postulat eines gerechten Gottes implizieren – diese Grundeinsicht Immanuel Kants ist für alle unhintergehbar, die sich dem moralphilosophischen Diskurs heute nicht von vornherein verschließen wollen.
Um einen explizit positiven Zugang zur Moderne zu erlangen, bedarf es einer Definition, die sich nicht an der konkreten Gestalt dieser Epoche, sondern an ihrer formalen Struktur orientiert – eine Definition also, die weniger auf die Schwierigkeiten einer hoch technisierten und global verflochtenen Welt sieht, sondern stattdessen den schier unermesslichen Zugewinn des Menschen an Freiheit und Möglichkeiten würdigend in den Blick nimmt. In dieser Weise begreift etwa der Philosoph Herbert Schnädelbach die Moderne in ihrer weitesten Bedeutung als die
„gesellschaftliche Situation einer Kultur […], in der die Menschen in selbst zu verantwortenden kognitiven und normativen Ordnungen leben müssen.“1
Mit dem Ausdruck des „Leben-Müssens“ ist nochmals eingeholt, dass es aus dem Freiheitsschicksal der Moderne kein „Entkommen“ gibt, da selbst der antimodernistischen Gotteshörigkeit ein freies Sich-Entscheiden zugrunde liegt. Trotz dieses vielleicht unangenehmen Beigeschmacks steht für Schnädelbach außer Frage, dass die in Konfessionalisierung, Aufklärung und Säkularisierung freigesetzten Emanzipationsschübe überhaupt erst das Reflexiv-Werden des Subjekts und damit seine freie Selbstbestimmung ermöglicht haben. Gerade die Eigenverantwortung des Menschen für die Ordnung der Dinge und für den freien Entwurf seiner Lebenszusammenhänge zeichnet die Moderne aus – und setzt eine Verantwortung, der nur im offenen Diskurs der Gesellschaft gerecht zu werden ist.
Eine solche conditio moderna gilt in vollem Maße auch für den christlichen Glauben. Als Teil des gesellschaftlichen Ganzen kann er sich den Bedingungen der Moderne nur zum Preis seiner Selbstaufgabe entziehen. Will er nicht über kurz oder lang der fundamentalistischen Versuchung erliegen, muss er sich die Pluralität der Möglichkeiten auf affirmative Weise zu Eigen machen: Das Schicksal der Moderne ist ein moderne Chance!
Chance eines bescheidenen Glaubens
Mit Charles Taylors A Secular Age (2007) und Hans Joas’ Glaube als Option (2012) wurde seitens der Philosophie und Soziologie ausführlich attestiert, was man in den kirchlichen Schaltstellen vielerorts noch immer nicht wahrhaben will: Der christliche Glaube stellt in der westlichen Gesellschaft längst nur noch eine Option unter vielen dar. Gerade die virulente Option des Nichtglaubens ist als Indiz dafür aufzufassen, dass formale Gewissheitsbeschwörungen nichts oder nichts mehr austragen, wo der Inhalt des Glaubens und daraus auf abenteuerliche Weise abgeleitete Moralansprüche mehr frag- als glaubwürdig geworden sind.
Dabei ist die dem modernen Menschen ins Bewusstsein getretene Kontingenzerfahrung weniger ein Hemmnis gläubiger Gottesgewissheit als die Bedingung der Möglichkeit, einem Gott freier Zukunft trauen zu können. Gerade mit Blick auf die biblische Erzählwelt, die das Bild eines Gottes zeichnet, der sein Volk durch die Ungewissheiten der Geschichte begleitet, geht es nicht an, den freien Zukunftsraum einzudämmen. Erst die bewusste Inanspruchnahme der kontingenten Optionalität unserer Entscheidungen, ermöglicht einen Glauben, der diesen Namen verdient – weil er auf freien und vernünftigen, d.h. inhaltlich verantworteten Gründen beruht.
Aus diesem Grund stellt der Glaube für Joas gerade „keine Kontingenzbewältigungsstrategie dar, sondern die Voraussetzung für einen spezifischen Umgang mit Kontingenz.“ Für ihn steht außer Frage: Auch unter den
„Bedingungen hoher Kontingenz kann es […] sehr wohl zu festen Bindungen an Personen und an Werte kommen, es ändert sich nur die Art dieser Bindungen; nicht Relativismus ist das Resultat von Kontingenzsensibilität, sondern ‚kontingente Gewissheit‘, eine Gewissheit, die sich der Kontingenz ihrer Entstehung bewusst ist.“2
Die falschen Gewissheiten gewollt vormoderner Couleur sind damit auf die Plätze verwiesen – können sie doch nicht einhalten, was sie suggerieren, und führen allzu leicht auf die schiefe Bahn intellektueller Regression. Die von Joas benannte menschlich erschwingliche Gewissheit mag für harte Missionsfans manifest unzureichend sein. Ich wüsste dagegen nicht, wie jenseits erneuter formaler Gewissheitsbehauptungen ein „Mehr“ möglich und intellektuell vertretbar sein sollte. Die Moderne hat uns gelehrt, allen Absolutismen gegenüber auf der Hut zu sein – auch und gerade in Bezug auf übernatürliches Offenbarungswissen und vermeintlich sakrosankte Moralansprüche. Im Blick auf die bescheidene Vermittlungsfigur des Christentums, den menschgewordenen Gott, ist mit aller Entschiedenheit für eine ebenso bescheidene Gewissheit unseres Glaubens zu plädieren. Sie mag prekär und fragwürdig bleiben, dafür ist sie intellektuell redlich und gesellschaftlich kommunikationsfähig.
Die Kirche braucht keine Angst vor der Moderne zu haben, sie muss sich lediglich auf ihre Verstehensvoraussetzungen einlassen. Dazu braucht es mehr Menschen in der Kirche, die etwas zu sagen haben – nicht nur qua Amt, sondern aufgrund inhaltlicher Qualifikation. Und es braucht Mut – von allen, denen die christliche Gotteshoffnung zu wertvoll ist, um sie der Welt von gestern zu überlassen.
Hashtag der Woche: #modernglauben
(Beitragsbild: @ryoji__iwata)
1 H. Schnädelbach, Gescheiterte Moderne? (1989), in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt 1992, 431–447: 443.
2 H. Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012, 126.
Guten Tag, ich finde diesen Artikel sehr interessant und es scheint seit langer Zeit mal wieder so, dass um theologische Fragen gerrungen werden kann und muss. Ich habe mehrere Punkte die ich schwierig finde, oder vielleicht sogar zu kurz gedacht finde.
1) Die Analyse das der moderne und postmoderne Menschen sich entscheiden muss (in) allen Belangen ist Standarddetung, Erfahrung und verifiziert. Der Satz am Ende des Artikels „In der bewussten Abwendung vom „Markt der Möglichkeiten“ hin zu einem eindeutigen Bezugsystem bestätigen religiös Selbstgewisse unfreiwillig die perhorreszierte Unvermeidlichkeit des Sich-entscheiden-Müssens.“ unterstellt, dass diese Abwendung etwas Negatives darstellt, das greift als Kritikpunkt zu kurz. Ja sogar die Deutung der Abwendung ihrerseits an sich stellt ja schon in sich einen Zirkelschluss dar, der meines erachtens nicht zulässig ist. Wenn jeder wählen muss, ist auch die (vermeintliche) Abwendung vom Markt in Wirklichkeit doch nur das Treffen einer Entscheidung aus den verschiedenen Marktmöglichkeiten. Denn niemand in Deutschland (Europa) lebt so isoliert, dass ihm nur ein Denk, Glaubens- und Kultursystem zur Verfügung steht und somit keine echte Wahl möglich wäre. Wie sie selbst schreiben: Jeder „muss“ wählen. Der zweite Einwand diesbezüglich, ist die Frage tiefgehender Entscheidungen. Diese benötigen ein sich einlassen auf tiefgründige durchdringende Bezugssysteme. Philosphisch gibt es dazu nur zwei Möglichkeiten: Ich mache mir mein grundlegendes Bezugssystem selbst, weil es keines gibt (Existentialisten u.ä.) oder ich finde es (alles was mit Glauben / Menschenrechten und allem was Metaphysisch verankert werden muss). Wenn ich glaube, gehe ich automatisch den Weg des „Findens“. Damit ist eine Einbettung des eigenen Lebens und Handelns in ein „vorfindbares System“, wie z.B. dass des christlichen Glauben erst einmal etwas Wählbares, Wichtiges und Gutes. Diesen Weg gehen Menschen, aber nicht aus der Luft oder einer Laune heraus, sondern aufgrund von Erfahrungen. Sie diese Erfahrungen wertlos? (Das es ein „Findbares“ System gibt, würden unter diesen Voraussetzungen wahrscheinlich auch 98 % aller Menschen (mit klarem Verstand so sehen und für ihr Leben benennen.) Wenn ich die Wahl für solch ein metaphysisch verankertes System treffe, weil ich es muss und im hoffentlich klaren Geist, meiner Intuition, meinem Gefühl, mit meiner Vernunft, Erfahrungbasiert und reflektiert. Dann steckt dahinter eine reife Entscheidung und nichts Perhorreszierendes.
Ihre Analyse des Optionsgedanken (nach Joas und anderen) teile ich weitgehend. Aber aus meiner Sicht nicht zutreffend oder unfair sind ihre Unterstellungen im Bezug auf das Missionsmanifest und das Gebetshaus. 1) Woher nehmen sie ihre Interpretation und die Analysegrundlage? (Welche Textstellen / theologisch fundierten Vorträge der Autoren/ Redner sind Grundlage dieser bewußt pointiert gesetzten Anspielungen? (Bitte nutzen sie nicht die Hard Facts (Glaube in 90 Sekunden von Johannes Hartl… das ist unter dem Niveau ihres Artikels.) Kenn sie viele Menschen die im Gebetshaus Beten oder die „Mehr“ besuchen. Was sagen sie zu den Rednern auf der Mehr? Sind das alles Fundis, die ihr Hirn und ihre Vernunft ausschalten, und die gesellschaftliche Realität aberkennen und in einer harten restriktiven Rolle Rückwärts zu alten Kirchen- und Gesellschaftswelten zurück wollen. Tut mir leid, aber es sind theologisch und gesellschaftlich klar denkende Menschen, die dem Grundsatz Thomas von Aquin von der Gnade und der Natur folgen. Falls sie andere Menschen insbesondere (Lehrer/innen/ Prediger dort dauerhaft kennen, nennen sie bitte Ross und Reiter.) Nur dann bleibt es fair. Ich finde aber ihren Gedanken der Wissenschaftlichkeit, den sie aufwerfen spannend: Wie geht Wissenschaft mit Erfahrungen um, die nicht Wissenschaftlich eindeutig fassbar aber real sind? solche sind dort und anderswo u machen. Sind Gebetserfahrungen, „Mehr Konferenz“ Erfahrungen, Zungengebet, Botschaften Gottes in das individuelle Leben, z. B. beim Bibel teilen, und vieles mehr nicht zulässig. Müssen wir Glaubende, die regelmäßig „religiöse“ Erfahrungen machen darüber schweigen, ja sie am besten Verdrängen, weil es ja nur individuelle Deutungen sind, und diese Wissenschaftlich nicht eindeutig erklärbar und fassbar sind? Ist dass der Grund für ihre geforderte Bescheidenheit? Was tun wir mit Heilungen und Wundern in Gemeinden? Sind das alles Spinner und psychisch schwache Personen? Diesen Spannungsfeldern wird insgesamt zu wenig Raum in der wissenschaftlich theologischen Debatte gegeben. Was ist denn mit Lourdes. Medjugorjie und so vielem mehr? Für mich wirkt Gott durch die Linien der Naturwissenschaft. Klar. Aber was ist mit den Dingen, die Naturwissenschaftlich nicht erkläber sind? Finden die nicht statt? Ist Jahwe kein Gott von Offenbarungen außerhalb der Naturwissenschaften? Wer oder Was ist dann Jesus, seine Lehre, sein Handeln und sein Wirken? Was ist dann Ostern? – Letzlich ist diese Offenbarung etwas nicht wissenschaftlich fassbares. Aber es ist das metaphysische System auf dem ich lebe und unser Glaube aufbaut. Oder ist Jesus nur die „Wittgensteinsche Leiter“, die man nur einmal (als Ausnahme) nehmen muss, weil es eben sonst nicht anders geht, und dann bitte nie wieder Offenbarungen, Gebetserhöhrungen und Wunder? Oder nur für debile, zu kurz denkende Menschen, die der ach so anstrenden Realität entfliehen wollen in eine „heile Welt“ von Gottes Reich? Tut mir leid, neben den nicht fundierten Unterstellungen, verpassen sie gerade in diesem Punkt die spannende Frage. Und zum Thema Bescheidenheit kann ich nur auf zwei Arten Antworten: a) persönlich und individuell: Wenn ich die Erfahrung einer Heilung und des Wachstums mit Gott und dem Glauben an Jesus Christus mache ist das (m) eine Realität. Es ist die größte Medizin, der größte Kick, der Wertvollste SChatz des Lebens den man (& Frau) finden kann. Sind wir damit nicht verpflichtet Menschen diese perspektive Offensiv näher zu bringen? Wäre es nicht unmenschlich, dies zu unterlassen? „Schlimm“ wie es die Präambel des Manifestes sagt?! b) Theologisch: Jesus hat einen klaren Auftrag formuliert. Die Apostel haben danach gelebt und es ist der letzlich einzige Sinn von Kiche: Bringe die Menschen zu Gott (und Jesus) und Gott zu den Menschen. Da steht nichts von Bescheidenheit. Da steht auch nichts von Uneindeutigkeit im Sinne von „Jaaa,… hm, so genau können wir es nichts sagen, weil unsere Geisteswissenschaftlich nicht alles von seiner Lehre, fassen deuten und nachweisen konnten. Außerdem muss ja jeder wählen, dann wähle halt was du willst, und ich habe zwar wie 2,6 Mrd. Menschen einen richtig guten Weg gefunden, aber hey das passt jetzt bestimmt nicht so, also lasse ich es.“ Nein, in meinem neuen Testament ist es klar formuliert. So wie es auch das Manifest (sicher pointiert) aber reflektiert, begeistert, in Sorge aber trotzdem sachlich auf den Punkt bringt.
PS: Natürlich weiß ich, dass es Personen gibt, die einen einfachen Weg in einen kleines geschütztes Restauratives Biotop suchen. Aber hier wird das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Es wird von einer kleinen Minderheit auf das Ganze geschlossen, von der Einzelrezeption auf das ganze der Lehre und eine Chance verpasst neue Realitäten anzuschauen und diese intensiver zu Beleuchten und sie für Menschen (auch Wissenschaftler von heute) greifbar zu machen.
Vielen Dank für ihren Artikel.
Sehr geehrter Herr Stracke,
es freut mich, dass Sie meinen Text so aufmerksam zur Kenntnis genommen haben. Vielen Dank auch für Ihren aufrichtigen Kommentar, auf den ich zwar nicht in allen Einzelheiten eingehen kann, aber aus dem ich wenigstens zwei Punkte kurz aufgreifen will.
Zunächst zum Thema Entscheidung und Entschiedenheit des Glaubens:
Mit ihrem ersten Kritikpunkt bestätigen Sie meine These, dass es in der Gesellschaft der Moderne kein „Entkommen“ vom Wählen-Müssen gibt. Und ohne Zweifel ist auch das bewusste Sich-Einlassen auf ein vorfindliches Glaubens- und Wertesystem in diesem Sinne eine legitime Wahl – solange sie als solche benannt wird und die Legitimität anderer Wahlmöglichkeiten nicht aus formalen Gründen (göttliche Verfügung, Schriftautorität o.ä.) ausschließt.
Insofern möchte ich die Mitglieder der von Ihnen genannten Bewegungen durchaus nicht unter den Generalverdacht des Fundamentalismus stellen, sondern versuche – wie in der Einleitung zum Ausdruck gebracht –, Tendenzen bezüglich der Begründungsstrukturen aufzuzeigen. Diese Tendenzen sehe ich dort zu einer Gefahr werden, wo individuelle Freiheit und weltanschauliche Pluralität aus einer vermeintlich übergeordneten Glaubenswarte in Frage gestellt oder verteufelt werden – ein Problem, das freilich in ähnlicher Weise auch konservative katholische Kreise oder evangelikale Gemeinschaften betrifft.
Betont sei dabei, dass aus dem Eingeständnis der Kontingenz, d.h. der Nicht-Notwendigkeit unserer Glaubensentscheidung nicht automatisch Duckmäusertum oder „laue Christen“ resultieren. Wir können unseren Glauben durchaus mit gewinnender Entschiedenheit nach außen vertreten. Unter den Voraussetzungen der Moderne ändern sich aber die Kommunikationsbedingungen: Was zählt, sind die inhaltlichen Gründe der Überzeugung – die Kategorie der Erfahrung allein ist hier unzureichend, da sie per se persönlich konstituiert und damit nur äußerst bedingt mitteilbar ist.
Meine zweite Erwiderung betrifft das Thema Glaubenswissen und Offenbarung:
Ich will nicht verheimlichen, dass mir philosophische Offenbarungsmodelle nach Art von Kants natürlicher Religion deutlich näher stehen als der hoch emotionalisierte Wunderglaube in Lourdes oder die selbstlegitimierende Zungenrede in charismatischen Gemeinden. In beiden Fällen stellt sich die abgründige Frage: Warum gewährt Gott dem einen Offenbarung und lässt den anderen im Dunkeln – warum wird von zwei Schwerkranken einer geheilt? Wurde etwa zu wenig gebetet – oder falsch? Die klassische Gnaden-Lehre verschärft diese Frage aus heutiger Perspektive eher, als dass sie zur Klärung beitragen könnte.
Ich plädiere in dieser Hinsicht für eine offenbarungstheologische „Abrüstung“: Wenn wir mit dem christlichen Urdatum der Inkarnation ernst machen, ist Gott selbst in die Geschichte eingegangen. Damit tritt auch alles vermeintlich unumstößliche Glaubenswissen in zeitgeschichtliche Zusammenhänge ein und verliert seinen Ewigkeitspathos. Dieses Wissen hindert mich nicht daran, mich in die Gebets- und Hoffnungssgemeinschaft der Kirche einzureihen und an Ostern „Christus ist erstanden“ zu singen. Aber mein Auftrag als Theologe sehe ich nicht darin die Bibel zu rezitieren, sondern darüber nachzudenken, welche der darin gesammelten Gottesvorstellungen unter heutigen Voraussetzungen wie zu plausibilisieren sind.
Beste Grüße,
Moritz Findeisen
Sehr geehrter Herr Findeisen,
zunächst entschuldige ich mich für meinen schlechten Schriftstil (Rechtschreibung u.ä.), es ist leider eine echte Schwäche meinerseits. Ich bedanke mich sehr für ihre Klärung und Stellungnahme.
Was die Ausführungen zu ihrem ersten Punkt angeht, hilft mir ihr Erläuterung sehr und ich kann mit dieser Pointierung gut mitgehen.
Spannend bleibt der zweite Teil. Ich komme gebürtig ebenfalls mehr von ihrer Position. Glaube und Gotteserfahrung sind im Lichte der Vernunft zu reflektieren und müssen einer ernsthaften und ehrlichen theologischen und soweit möglich wissenschaftlichen Reflektion standhalten, darin stimmen wir überein. Aber es ist schwierig sich nur auf das philosophisch oder empirisch Fassbare zu beschränken. Dieser Weg ist natürlich sicher, und im geisteswissenschaftlichen Diskurs der fundierteste und solideste Weg. An vielen Stellen eines solchen Diskurses vermutlich sogar der einzige, wenn man im Gespräch bleiben möchte. Nur überrent uns gerade eine andere Pastorale Realität. Es wachsen gerade überall dort Glaubensgemeinschaften, wo über diesen Horizont hinaus gegangen wird. Kleine Geistliche Gemeinschaften, Geistliche Gemeinschaften, Augsburg, Taizé, Lourdes, etc. Das ganze ist Weltweit sogar noch viel stärker!! Ich bin kein Anhänger aller dieser Richtungen, aber bei ihnen sind Gebets- und biblische Offenbarungserfahrungen essentiell. Ich selbst mache in unseren Gemeinden ähnliche Erfahrungen. Nur Kopf und Theologie kommen nicht rüber, oder nur bei sehr, sehr wenigen. Glaubenserfahrungen der anderen Art aber entfachen schon echte Feuer, und nein es sind keine Strohfeuer, sondern oft sind gerade diese Menschen so entfacht, dass sie erst mit und nach solchen Erfahrungen nach der reflektierten Theologie fragen. Sie bekommt erst durch die anderen Erfahrungen eine Relevanz und Tiefe. Ich selbst mache auch auf dem Hintergrund des oben genannten Wissens solche lebendigen Erfahrungen (nicht die der Zungenrede,…) aber z.B. beim Bibel teilen. Ich glaube daher trotzdem, dass sich die Theologie diesen nicht fundierten Fragen stellen mußte. Denn a) Sie sind ja da und kein Einzelphänomen und b) sie können ja auch nicht wiederlegt werden. Es lohnt schon dorthin zu schauen und gerade um der Menschen Willen die auf die Wissenschaftlichkeit und Verbindlichkeit von Theologie hoffen, diese nicht im Regen stehen zu lassen. Und es ist spannend, auch erst einmal Ergebnisoffen an diese Phänomene heranzugehen.
Was den Gedanken der Bibelrezitation angeht, kann ich für mich nur sagen, dass die einzige Überlieferung, die wir haben, die Bibel ist, und wenn ich diese kritisch komplett zerreiße und mich in jedem Zweifelsfall vom biblischen Text löse um ihn diffus zu übersetzen, wie dies z.B. Bultmann o.ä. getan haben, dann bleibt nichts übrig. (Am Ende nicht einmal das Urdatum der Inkarnation). Insofern gibt es für mich eine unmittelbare Berechtigung unter Berücksichtigung von Exegese, Textkritik und historischen Erkenntnissen, das Wirken Gottes zu lesen und zu deuten. Wir sind in diesem Punkt vermutlich gar nicht so weit auseinenander, wie es scheinen mag. Aber für mich entdecke ich immer mehr die göttlichen Wahrheiten im blanken Text. (Ohne das andere zu vergessen.) Den Boden der Empirie habe ich damit aber schon lange verlassen. (Achtung, nicht den der Vernunft.) Gott ohne einen gewissen Ewigkeitspathos ist schwierig, wie ich finde. Aber das ist natürlich eine Frage der persönlichen Spiritualität und der eigenen Glaubenserkenntnis.
Jedenfalls bedanke ich mich für ihre Antwort, wünsche ihnen für ihr Anliegen Gottes Segen und Wirken bei den von ihnen angestrebten Zielen in der Theologie. So etwas brauchen wir und werden wir immer brauchen!
Herzlichst Christof Stracke