In zwei Artikeln blickt Moritz Findeisen auf die Situation des Glaubens in der Moderne: Der Glaube wird zur Option. Im ersten Text wird erörtert, warum der Fundamentalismus attraktiv ist, aber keine Alternative darstellt.

Mit Blick auf die gegenwärtige Situation der katholischen Kirche in unseren Breiten kann man es tatsächlich mit der Angst zu tun bekommen – sofern nicht längst die Gefühle von Wut und Resignation überwiegen. Mit dem erneuten Bekanntwerden sexuellen Missbrauchs durch Geistliche in schier unvorstellbarem Ausmaß erleben die Institution Kirche und alle, denen noch etwas an ihr liegt, einen bis heute wohl nicht da gewesenen Glaubwürdigkeitsverlust. Ob die angeschlagene Heilsanstalt das verlorene Vertrauen in absehbarer Zeit wiederzuerlangen vermag, ist ungewiss und bleibt abzuwarten: Selbst in höheren Ebenen der kirchlichen Hierarchie setzt sich hier und dort die Einsicht durch, dass die Überzeugung, nur weil es 2000 Jahre lang gut ging, werde es immer so weitergehen, ein folgenschwerer Irrtum sein könnte.

Immerhin scheint die Brisanz der Lage mancherorts ungekannten Mut zu generieren – auch seitens kirchlicher Würdenträger werden neuerdings Themen diskutiert, auf denen noch vor kurzem der schwere Mantel des offenbarungspositivistischen Tabus lag. Doch die Vehemenz, mit der (emeritierte) Päpste, Bischöfe und Dikasterien, Theologinnen und Theologen ihre Autorität durch eigene Aussagen demontieren oder sich in aller Öffentlichkeit gegenseitig die Rechtgläubigkeit absprechen, ist ein zu deutliches Indiz dafür, dass die Kirche von einem Ankommen in der Moderne ebenso weit entfernt ist wie die vormaligen Selbstverständlichkeiten der „heilen Welt“ perdu sind.

Von einer ernstzunehmenden Debattenkultur, in der das inhaltliche Gewicht der Argumente und nicht die formale Autorität der Stimme zählt, kann bisher nicht die Rede sein. Eine Gewaltenteilung nach weltlichem Vorbild oder Mitbestimmungsrechte von „Lai*innen“ an der kirchlichen Hierarchie, Maßnahmen, die unter Umständen helfen könnten, Straftaten und deren Vertuschung in Zukunft zu verhindern, sind nicht in Sicht. Verständlicherweise?

Angst vor schwindenden Gewissheiten

Subkutan brodelt eine andersartige, tiefersitzende Angst – längst nicht nur bei den geweihten Verteidigern der überkommenen Strukturen: Es ist eine spezifisch moderne Angst, eine Verunsicherung angesichts der Infragestellung des Glaubens durch Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritt, durch die Großwetterlage einer sich zunehmend rasant säkularisierenden Gesellschaft oder durch Plausibilitätsverlust aufgrund veränderter Lebensumstände und -entwürfe.

Als spezifisch modern ist diese Verunsicherungsangst deshalb zu bezeichnen, weil sie überhaupt erst in einem Glaubenssystem aufkommen konnte, das seine bis dato gegebene Selbstverständlichkeit verloren und sich nun im Widerstreit verschiedener Geltungsansprüche und Weltanschauungen zu behaupten hat. Dieser Zustand konkurrierender Deutungssysteme prägt die Glaubenswelt Europas zwar hintergründig seit Anbruch der Neuzeit, wurde aber erst im Zuge der Selbstreflexivität der Moderne in dem Maße zum Problem, als er zunehmend ins Bewusstsein des*der Einzelnen trat. Wir wissen um die Relativität der christlichen Gottesbeanspruchung, wir wissen um ihre Optionalität, die eben keine fraglose Gegebenheit ist und es auch nicht wieder werden kann. Davor kann man Angst haben, muss es aber nicht – und sollte es auch nicht!

Das Potential des christlichen Glaubens in der modernen Gesellschaft wirksam zu machen, ist wohl der dringlichste Auftrag einer gegenwartskompatiblen Theologie und entspricht der – in klassischer Terminologie gesprochen – ureigensten Sendung der Kirche. In diesem Sinne haben Theologinnen und Theologen ebenso wie alle Christgläubigen tatsächlich eine Mission. Das im Untertitel geführte Stichwort eines bescheidenen Glaubens markiert aber den entscheidenden Unterschied zu anderen Missionsvorstellungen, die in jüngerer Zeit von sich hören machen. Diesen gegenüber sind meine Überlegungen als alternatives Konzept, wenn nicht als Gegenentwurf gedacht. Es liegt mir fern, hier vorschnell das Urteil des Fundamentalismus zu fällen; mein Versuch ist es, Tendenzen aufzuzeigen, die im theologischen Diskurs nicht unbedacht bleiben dürfen.

Fundamentalistische Versuchung als falsche Alternative

Die Angst vor schwindenden Gewissheiten dürfte man mit Recht als Ursprung des religiösen Fundamentalismus bezeichnen können: Das bewusste Erleben oder auch nur unbewusste Erleiden schwindender Glaubensgewissheiten führt zu einer umso vehementeren Verteidigung dessen, was man für sich als verbindliche Überzeugungen gewonnen hat. Auf diesem Weg begegnet man einer als unübersichtlich empfundenen Gesellschaftssituation, in der die unterschiedlichsten Glaubenskonzepte dem persönlichen Einzelurteil unterworfen und somit alle gleich wahr und gleich falsch zu sein scheinen. Die Unausweichlichkeit des Sich-entscheiden-Müssens wird als Überforderung empfunden und steht dem Wunsch nach eindeutigen Richtlinien diametral entgegen – sei es in Fragen des Glaubens oder der daraus abgeleiteten Weltanschauung, Werte- und Gesellschaftsordnung.

Der durch Humanismus und Aufklärung schrittweise selbstbefreite Mensch droht in ein neues Gefühl der Unbehaustheit zurückzufallen. Und während die Struktur der offenen Gesellschaft nach autonomer Selbstverwirklichung und individueller Letztbegründung verlangt, rettet er sich in alte Gehorsamsstrukturen. Der Freiheitstraum seiner neuzeitlichen Vorfahren ist ihm zum Albtraum geworden. Der naheliegende Ausweg aus diesem Entscheidungsdruck wird in der offensiven Reduzierung der Wahlmöglichkeiten gesucht.

Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass das Phänomen des religiösen Fundamentalismus zunächst in den Vereinigten Staaten, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auftrat und erst von dort seinen Weg nach Europa fand. Ursprünglich als Selbstbezeichnung verwendet, waren die fundamentals eine Bewegung des amerikanischen Protestantismus, die sich gegen die Einflüsse der liberalen Theologie abzugrenzen versuchte. Insbesondere den umstürzlerischen Erkenntnissen der historisch-kritischen Bibelexegese setzte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein radikales Bekenntnis zur göttlichen Herkunft und Irrtumslosigkeit der Bibel entgegen. Inzwischen zum festen Ausdruck geworden, erstreckt sich der religiöse Fundamentalismus längst auf alle Bereiche des Lebens und bestrebt die Wiederherstellung der verbindlichen Werteordnung vergangener Gesellschaftsformen – allem voran in Hinblick auf Familienbild und Sexualmoral.

In seiner angstbesetzten Tendenz zur Vereindeutigung des Entscheidungshorizonts und zur Verabsolutierung der eigenen Lebensweise ist der religiöse Fundamentalismus als spezifisches Krisenprodukt der Moderne zu identifizieren. Er kann als pathologische Begleiterscheinung einer freien Gesellschaft gelten, deren herausfordernder Möglichkeitsreichtum dem Individuum zur Überforderung geworden ist. Insofern unterscheiden sich fundamentalistische Begründungsstrukturen unserer Zeit, sei es im religiösen oder politischen Bereich, markant von vorneuzeitlichen Absolutheitsansprüchen. Diese waren eingebettet in eine mehr oder weniger geschlossene christliche Gesellschaft, deren Glieder allein aufgrund der lebenspraktischen Alternativlosigkeit und gläubigen Selbstverständlichkeit gezwungen waren, ihr Dasein entsprechend der vermeintlich göttlichen Ordnung und den kirchlichen Geboten zu gestalten.

Bei genauerer Betrachtung fundamentalistischer Strömungen der Gegenwart sticht indes ein innerer Selbstwiderspruch bezüglich Glaubensinhalt und Glaubensvollzug ins Auge: Während auf der „objektiven“ Seite des Glaubens, klassischerweise als fides quae bezeichnet, die Immunisierung zeitlos gültiger Heilswahrheiten gegenüber der Verunreinigung durch den „Zeitgeist“ angestrebt wird, betont man auf der „subjektiven“ Seiten, im Vollzug der fides qua, die Bedeutung der persönlichen Erweckung und Glaubensentscheidung. Indem hier nun eindeutig als neuzeitlich zu identifizierenden Kategorien wie Authentizität des Bekenntnisses, Identität der Person, Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung bedient werden, verrät sich der religiöse Fundamentalismus einmal mehr als waschechtes Kind der Moderne. In der bewussten Abwendung vom „Markt der Möglichkeiten“ hin zu einem eindeutigen Bezugsystem bestätigen religiös Selbstgewisse unfreiwillig die perhorreszierte Unvermeidlichkeit des Sich-entscheiden-Müssens.

Morgen erscheint der zweite Teil des Textes, in dem die Frage nach einem zeitgemäßen Glauben aufgeworfen wird.

Hashtag der Woche: #modernglauben


(Beitragsbild: @ryoji__iwata)

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moritz findeisen

studierte in Freiburg Theologie und Geschichte. Er arbeitet aktuell an einer Dissertation zum Verhältnis von Geschichte und Offenbarung.

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