Politikverdrossenheit war gestern, heute ist Aufregung. Es scheint, als seien wir alle überfordert mit den Komplexitäten unserer Zeit. Marlene Deibl hält ein Plädoyer für einen konstruktiven Zorn, der nicht in blinde Wut umschlagen darf.

In einer globalen Gesellschaft und jedenfalls in einer europäischen Zivilgesellschaft, in der immer häufiger unvereinbare Ansprüche und Deutungen aufeinandertreffen und in der konkurrierende Untergangserzählungen die Verständigung verunmöglichen, ist das vorherrschendste aller Gefühle der Zorn. Das ist ein gutes Zeichen. Zum einen ist es in den letzten Jahren zunehmend schwierig geworden, indifferent zu sein. Die noch vor kurzem lamentierte Politikverdrossenheit wird selbst von den pessimistischsten Kommentartor*innen nicht mehr beklagt. Lau zu sein ist keine attraktive Geistes- und Gemütshaltung – selbst einem diffusen Ohnmachtsgefühl liegt meist eine zornige Stimmung zugrunde.

Zorn auf die Aufklärung

In seinem 2017 erschienen Buch Age of Anger, übersetzt als Zeitalter des Zorns, gibt der britische Historiker Pankaj Mishra eine überzeugende Interpretation des Zornes als Grundgefühl der sogenannten Modernisierungsverlierer*innen, derjenigen, die sich von den unübersichtlichen Unwägbarkeiten der modernisierten globalen Gesellschaft überrumpelt fühlen, und vor allem derjenigen, die nicht an eine bessere Zukunft für sich oder ihre Kinder glauben: uns allen also. Die Erzählungen des Fortschritts sind nicht einmal mehr von dem Fortschritt in einen Zustand jenseits der Geschichte überlagert, so Mishra: Es droht tatsächlich die immer wiederkehrende Wiederholung einzelner Situationen. Für ihn ist die Grundfrage der entfalteten Moderne,

warum viele von der Moderne verführte junge Menschen schließlich Zorn auf die Aufklärungsideale Fortschritt, Freiheit und Vervollkommnung des Menschen entwickeln; warum sie Erlösung durch Glaube und Tradition predigen und an die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie, Gehorsam und Unterordnung glauben; oder warum diese innerlich gespaltenen, sich selbst schmerzhaft verachtenden Menschen Konflikt und Leid, Blutvergießen und Krieg begrüßen.

(Mishra, 15)

Zorn und Gerechtigkeit

Zorn ist ein Affekt, der in der Regel eine Ursache hat; und zwar in einer Ungerechtigkeit, die stark empfunden wird, zunächst einmal unabhängig von einer Rechtfertigung oder Abwägung dieser Ungerechtigkeit. Stärker noch als andere Affekte verweist der Zorn auf den Anspruch nach Gerechtigkeit – dann, wenn keine Gerechtigkeit besteht. Die Zornige fühlt sich im Recht und dieses Recht ist nicht durchgesetzt. Zorn ist also eine der affektiven Grunderfahrungen des Menschen – und selten eine rein individuelle Angelegenheit. Zorn zeigt immer etwas an, was in zwischenmenschlichen Verhältnissen und in der Gesellschaft als ganzer im Argen liegt. Zorn ist dabei verlässlich, es eignet ihm eine Form von Rationalität. Zorn ist auch ein Korrektiv gegen intellektuelle Trägheit, die es vorzieht, sich einem Zorn-induzierenden status quo anzupassen, statt dessen Grundlagen zu reflektieren und von dieser Prüfung ausgehend zu befragen. Ohne Grund ist niemand zornig, und über diese Gründe können wir ein Gespräch führen.

Gleichzeitig ist im Zorn auch etwas angelegt, das selbstgerecht sein kann: Das Zürnen der Eltern über das ungezogene Kind etwa mag noch angehen, da die Erziehung auch eine affektive Kontrollfunktion hat, aber der Zorn an sich rechtfertigt im öffentlichen Raum noch keine Handlungen, die anderen schaden. Vielmehr zeigt Zorn etwas an, das benennbar ist – und auch benannt werden soll. Zorn treibt zu einer sprachlichen Äußerung an, zu Verständigung. Wer zürnt, weiß einigermaßen, warum, und wenn nicht die Mittel zur Verbesserung des Zustandes, so doch zumindest, wie ein besserer Zustand gestaltet sein könnte.

Zorn und Wut

Mehr Klarheit über das Wesen des Zorns gibt der Vergleich mit einer oberflächlich eng verwandt scheinenden Affektlage, der Wut. Wut ist, selbst wenn sie sich in einem konkreten Wutanfall gegen eine Person oder einen Gegenstand richtet, unpersönlich, irrational.

Wut kann jedoch, so sie nicht einfach aus einer pathologischen Situation heraus entsteht, auch eine Folge von Zorn sein, der keine Konsequenzen hat, sich staut und schließlich seinen Bezug auf eine gerechte Ordnung, so ferne sie auch vorgestellt sein mag, verliert. Dann wird der Zorn und der oder die Zornige zu einer zerstörerischen Macht, die nicht selten auch blinde Selbstzerstörung bedeutet. Wut ist Zorn ohne Aussicht auf Gerechtigkeit, oder genauer, ohne eine Vision von Gerechtigkeit, hinter die die Wirklichkeit zurückfallen könnte. Dem Zorn liegt immer ein „Aber“ zugrunde; die Wut hat dieses hinter sich gebracht, vergessen oder verabschiedet.

Beispiel? Die Wut alter weißer Männer.

Die Gegenwart hält einige besonders exemplarische Exponate wütender, oft alter, meist weißer, Männer bereit. Hier dürfen sich die verehrten Leser*innen das liebste Beispiel gerne visualisieren. Eine Übung auf eigene Gefahr.

Rötungen im Gesicht? Faustkrampf? Zur Symptombewältigung empfiehlt sich ein Gang in die Bibliothek. Eine besonders schöne Phänomenologie des gallespeiend leerlaufenden männlichen Wütens findet sich in dem 1956 (!) erscheinen Roman Heimito von Doderers mit dem ebenso schönen Titel Die Merowinger. Die alle Gesellschaftsschichten einende Pathologie ist die Wut: Ihre Behandlung ist einem besonderen Segment der Ärzteschaft aufgegeben und geschieht in eigens eingerichteten Praxen und Häuslein, in denen zu Marschmusik mit Porzellanfiguren geschmettert werden kann; ändern tun sich über die unterschiedlichen materiellen Voraussetzungen der einzelnen Betroffenen höchstens einzelne Ausdrucksweisen der Wut. Der Wütende ist unheilbar vulgär, unzugänglich, entsubjektiviert. Es ist aber auch bei Doderer die Wut einer modernen Gegenwart der Verzweifelten: „Die Wut des Zeitalters ist tief“, heißt es dort – und auch bei ihm ist sie vor allem die Wut alter weißer Männer, deren übliche Taktiken und Techniken nicht mehr aufgehen. Und sie ist grotesk, sie ist ungerichtet und sie ist hoffnunglos, da sie keine Adressat*innen mehr hat.

Wer zürnt, möchte, dass sich etwas ändert. Wer wütet, hat schon aufgegeben. Heute sind Wut und Zorn auch deshalb in bisweilen ununterscheidbare Nähe zueinander gerückt, weil die klassischen loci des Zürnens, die öffentliche Debatte und die Gerichtsbarkeit, jede mit ihrer eigenen gewaltausübenden, rechtmäßig verteilten Kraft ausgestattet, zunehmend diffus geworden sind und der Zornige kaum mehr weiß, gegen wen sich sein Zorn richtet und wen er mit seiner Streitrede adressieren kann. Gerade darin liegt die eigentliche Gefahr – nicht im Potential des Sich-Entrüstens, sondern in seiner vorschnellen Verwechslung mit einer real wahrgenommenen Ohnmacht und einer umgehenden Verwandlung des Zornigen in einen Wütenden.

Empört euch! Aber wütet nicht.

Am Ende dieses Beitrags will ich keine Aussichten eröffnen. Ja, es braucht ein waches Bewusstsein für Unrecht und einen klaren Blick für Gerechtigkeit. Es braucht individuelle Affektkontrolle und es braucht kollektive Erzählungen, um Wut zu kontrollieren. Aber mancher Zorn ist gerecht, und der Weg zu einem gewachsenen Bewusstsein der Gerechtigkeit und Freiheit beginnt damit, den eigenen Zorn zu fühlen. In diesem Sinne: Empört euch. Es könnte helfen. Aber wütet nicht.

Es tut mir fast leid, aber gerade darin, dass mir nichts weniger gemessenes einfallen mag, erkenne ich ein großes Potential unserer noch vor kurzem so verdrossen wirkenden Generation: Wenn wir uns empören, dann oft mit guten Argumenten und wenn wir gelassen bleiben, dann oft aus guten Gründen.

Und die letzten Worte will ich einem der größten Zürnenden und größten Liebenden unserer Geschichte lassen:

Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel.

(Eph 4, 26-27)

Hashtag: #empörteuch


(Beitragsbild: @Andre Hunter)

Literatur:

Doderer, Heimito von: Die Merowinger oder die totale Familie. München 1990.

Mishra, Pankaj: Zeitalter des Zorns. Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2017.

Eitzinger, Julia: Der zornige Mensch: Tugend oder Sünde? Eine Analyse ausgehend von Pankaj Mishras Zeitalter des Zorns anhand von Evagrios Pontikos, Johannes Cassian und Abū Ḥāmid Al-Ghazāli. Diplomarbeit, Universität Innsbruck 2017.

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marlene deibl

arbeitet als Prae-doc-Assistentin am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie studierte in Wien und Tübingen Philosophie und Südasienkunde, kann schneller sprechen als denken, schießt aber wesentlich langsamer als ihr Schatten. Ihre weiteren Interessensgebiete sind Wissenschaftstheorie, Parfümgeschichte und Bier.

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