Menschliche Moral als Proprium lehramtlicher Auslegung – alles Gottes Wille? Spätestens seit Kant wird diese Argumentation schwierig. Martin Höhl fragt an, ob und wie eine christliche Ethik ihrer Selbstghettoisierung entgegentreten kann, ohne dabei in philosophischer Ethik aufzugehen.

Im Juli 2018 hatte die katholische Kirche die Gelegenheit, den 50. Geburtstag eines ihrer sonderbaren Erzeugnisse zu begehen, doch nur wenigen Menschen war zum Feiern zu Mute: Am 25. Juli 1968 erschien Papst Pauls VI. Enzyklika Humanae vitae, die als „Pillenenzyklika“ in die Geschichte eingehen sollte. Dieser Kosename lässt schnell vergessen, dass das Dokument eine Vielzahl von Themen behandelt und v.a. lenkt er die Aufmerksamkeit auf ein anstößiges Symptom, ohne jedoch den neuralgischen Punkt des Dokuments zu treffen. Die Ablehnung künstlicher Verhütungsmethoden fußt auf einem viel weitergehenden Anspruch:

Kein gläubiger Christ wird bestreiten, daß die Auslegung des natürlichen Sittengesetzes zur Aufgabe des kirchlichen Lehramtes gehört. (HV 4)

Damit sind gleichzeitig ein immenser Anspruch und ein spezifisches Selbstverständnis des Lehramtes artikuliert, welches in Veritatis splendor (1993) nochmals explizit gegen autonome Moralkonzeptionen eingeschärft wird (v.a. Nr. 1—5): Das Lehramt fällt dem Willen Gottes entsprechende ethische Urteile und die Menschen haben diese zu befolgen. Doch kann dieses Konzept christlicher Ethik den kritischen (philosophischen, säkularen) Anfragen einer pluralen Gesellschaft standhalten? Wie kann christliche Ethik ihrer Selbstghettoisierung entgegentreten, ohne in philosophischer Ethik aufzugehen?

„Du sollst kein aus zweierlei Fäden gewebtes Kleid anlegen“ (Lev 19, 19)

Bei aller hermeneutischen Raffinesse wird man nüchtern festhalten müssen: Die Bibel enthält Normen, an die sich niemand (mehr?) hält bzw. halten sollte. Die Überschrift dieses Absatzes stammt aus dem sog. Heiligkeitsgesetz in Levitikus und ist nur eines der zahlreichen Beispiele. Gleiches gilt für das Neue Testament:

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: […]. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht […] (Mt 5,33f.).

Dieses Gebot ist umso bedeutsamer, da es eine innerbiblischeEntwicklung anzeigt und da die Kirche selbst – etwa mit dem Antimodernisteneid – aktiv Verstöße dagegen beförderte. Ebenso verhält es sich mit der Vorschrift aus 1 Tim 3,2.4, dass Bischöfe nur eine Frau haben sollen und ihren Haushalt inkl. Kindern im Griff haben müssen, um sich für ihr Amt zu qualifizieren. Moralnormen werden nicht in Felstafeln gehauen, sondern haben ihren spezifischen Sitz im Leben, sind flexibel und dienen dazu, ein gutes Zusammenleben zu ermöglichen. Sie sind kein Selbstzweck.

„Herr, zu wem sollen wir gehen?…“ (Joh 6,68)

Eine gewisse Spannung wird greifbar: Einerseits beharrt das Lehramt auf einer authentischen Verkündigung von Wahrheiten im Bereich der Sittenlehre, andererseits erfordern neue Umstände neue Regeln, während andere schlicht übergangen werden. In der Debatte um wiederverheiratete Geschiedene, die seit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in Pennsylvania zurecht niemand mehr spricht, wurde deutlich, dass die Kirche sich mit Teilen ihrer Morallehre in eine Sackgasse manövriert hat: Zum einen wächst das Bewusstsein, dass eine legalistische Ehemoral unmoralisch ist, zum anderen aber gibt es – wie Konrad Hilpert festhält – kein Verfahren,

mit dem überlieferte Positionen legitim und verbindlich modifiziert, das heißt: weiterentwickelt oder aber korrigiert werden können.1

Ganz zu schweigen vom immensen Glaubwürdigkeitsverlust, den die Missbrauchsfälle zutage fördern.

„Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen“ (Joh 6,28)

Wie lassen sich biblischer Anspruch, gut zu handeln, und der prekäre Status christlicher Ethik zusammendenken? Ein Rekurs auf Autorität, Tradition oder göttliche Offenbarung2 ist spätestens mit Kants Autonomiekonzept kein Selbstläufer mehr. Die Aufgabe der Kirche kann es nicht sein, Vorschriften in der Bibel zu suchen und diese – mit Hilfe einer steinbruchartigen Exegese – auf heutige Probleme zu aktualisieren. Sie muss vielmehr selbst vernünftige Gründe anführen, die Gläubige wie Ungläubige gleichermaßen nachvollziehen können. Das Hauptproblem hierbei besteht nicht darin, dass Kirchenvertreter*innen nicht vernünftig argumentierten, sondern darin, dass sie – unauthentisch und illegitimerweise – ihre ethischen Erkenntnisse in Offenbarungsquellen hineinprojizieren.

Wie vernünftig die Vorstellung eines natürlichen Sittengesetzes ist, kann hier nicht erörtert werden, es gibt jedoch gute Gründe, solche Konzepte als Sein-Sollens-Fehlschluss anzusehen. Was bestimmte Theolog*innen, die eine Naturrechtsethik vertreten, mit antirelativistischem Pathos gerne bewusst unterschlagen, ist allerdings die Tatsache, dass Kant keineswegs einer Beliebigkeit Tür und Tor öffnen will. Im Gegenteil: Er versteht unter „Autonomie“3 nicht Selbstbestätigung im Handeln, sondern die Fähigkeit, einem objektiven Gesetz zuzustimmen und es zur Maxime der eigenen Handlung zu erheben – Anarchie und Anomie4 sind explizit ausgeschlossen.

„…Du hast Worte ewigen Lebens!“ (Joh 6,68)

Haben Glaube und Moral also nichts miteinander zu tun? Eine erste positive Annäherung könnte lauten: Die Kirche hat eine über 2000 Jahre alte Tradition an Auseinandersetzungen über das richtige Handeln in den gesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen. Sie kann Erfahrungen einbringen – nicht aus einer arroganten, offenbarungstheologisch haltlosen Position heraus, sondern im Modus des gut begründeten Arguments.5
Schon Alfons Auer hatte die darüberhinausgehende Intuition, dass das Christliche einer Ethik auch darin bestehen kann, moralisches Handeln im Sinne des Glaubens zu „integrieren“, d.h. es in einen Sinnhorizont zu stellen.6 Das klingt zunächst vage, doch die Formulierung spiegelt einige biblische Metaphern: Es geht um die Weisung aus Jer 31,33, die Gott „auf ihr Herz schreiben“ wird; um das „Herz von Fleisch“, welches das „Herz aus Stein“ (Ez 36,26) ersetzt; um das „neue Gebot“, von dem Jesus in Joh 13,34 – unmittelbar vor seinen großen Abschiedsreden – spricht.

„Der schöne Jesus“7

Für Kant gilt: Das Gesetz soll aus sich heraus durch seine Plausibilität überzeugen. Doch offensichtlich reicht das nicht aus, Menschen auch zum moralischen Handeln zu motivieren. Hier kommt der Glaube ins Spiel. Kant nennt Jesus in seiner Religionsschrift den „Herzenskündiger“ (RGV, B 139). Für ihn ist die Figur Jesu das Beispiel eines vollkommen gerechten Menschen, welches durch seine Schönheit fasziniert und die Menschen bewegt. Die Bedeutung der Religion im moralischen Bereich lässt sich für ihn mit ästhetischen Begriffen fassen, während der Inhalt des Gesetzes vernünftig bestimmt wird. Religionen beantworten demnach nicht die Frage „Was soll ich tun?“, sondern „Was darf ich hoffen?“ – sie erzählen von Sinnzusammenhängen und schaffen damit eine „Realisierungspotenz“8 für das Gute. Kant wendet sich mehrfach strikt gegen heteronome Gesetze, die die Kirche den Menschen aufbürde. Sie sei – mit einer schönen Formulierung von P. Knauer SJ –

nicht dazu da, neue Sünden einzuführen, sondern von den alten zu befreien.9

Im besten Fall hilft Religion also, das Gute zu realisieren und es wird von Gläubigen erwartet, dass sie gut handeln. Aber: Wie kann es sein, dass jemand, der einen vitalen Glauben an den Gott Jesu Christi hat, schlecht handelt? Neben aller menschlichen Schwachheit könnte es auch daran liegen, dass sie*er ihren*seinen Verstand ungerechtfertigterweise zugunsten falscher Gewissheiten von falschen Propheten gängelt. Wer Glauben mit Aberglauben an heilige Gesetze verwechselt, läuft schnell Gefahr, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren und sich mit voreiligen oder unvernünftigen Antworten zufrieden zu geben. Die Geschichte der Kirche lehrt, dass ein vermeintlich frommes Werk – den Glauben zu schützen etwa – schnell zu Kreuzzügen, Hexen- oder Ketzer*innen-Jagden pervertiert werden kann. Bei jedem*jeder Christ*in sollten also die Alarmglocken läuten, wenn jemand vom „Willen Gottes“ spricht oder sich in der Position sieht, „Gott will es!“ auszurufen. Oder sollte Gott den Menschen die praktische Vernunft nur gegeben haben, um sie ständig durch sein Bodenpersonal vorführen zu lassen?

Hashtag der Woche: #moralinsauer


(Beitragsbild: @acharki95)

1 Hilpert, Konrad: Beziehungsethik als Erfordernis der Stunde. Zum Verhältnis von moraltheologischer Reflexion, kirchlicher Doktrin und pastoraler Praxis in Amoris laetitia, in: Goertz, Stephan/Witting, Caroline (Hgg.): Amoris laetitia – Wendepunkt für die Moraltheologie? (=Katholizismus im Umbruch, Bd. 4), Freiburg i.Br. – Basel – Wien 2016, 251–278, hier: 275

2 Vgl. Dei Verbum 11; 12. Benedikt Schmidt hält dazu in seinem sehr lesenswerten Buch zum Thema fest: „Eine absolute Irrtumslosigkeit der Schrift wird folglich nicht mehr behauptet“ (Schmidt, Benedikt: Gottes Offenbarung und menschliches Handeln. Zur ethischen Tragweite eines theologischen Paradigmenwechsels (=Studien zur Theologischen Ethik, Bd. 148), Freiburg (Schweiz) 2017, 196). Siehe auch: Kreiner, Armin: Offenbarung und Vernunft im Licht der gegenwärtigen Fundamentaltheologie, in: Heinzmann, Richard/Selçuk, Mualla (Hgg.): Glaube und Vernunft in Christentum und Islam (=Interkulturelle und interreligiöse Symposien der Eugen-Biser-Stiftung, Bd. 6), Stuttgart 2017, 113—121.

3 Vgl. Sensen, Oliver: Art. Autonomie, in: Willaschek, Marcus/Stolzenberg, Jürgen/Mohr, Georg/Bacin, Stefano (Hgg.): Kant-Lexikon, Bd. 1, Berlin – Boston 2015, 200—203; Gaziaux, Éric: L’Autonomie en Morale: Au Croisement de la Philosophie et de la Théologie, Leuven 1998, 361—363.

4 Pauen, Michael: Art. Autonomie, in: Kolmer, Petra/Wildfeuer, Armin G. (Hgg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 1, Freiburg 2011, 254—264, hier: 254.

5 Vgl. Rosenberger, Michael: „Davon versteht die Kirche doch gar nichts!“ Der Stellenwert kirchlichen Lebens und Lehrens für die ethische Urteilsbildung, in: ThPQ 152 (2004), 296—306.

6 Vgl. Auer, Alfons: Autonome Moral und christlicher Glaube. 2. Auflage, mit einem Nachtrag zur Rezeption der Autonomievorstellung in der katholisch-theologischen Ethik, Düsseldorf 21984, 189—197; zusammenfassend Nethöfel, Wolfgang: Moraltheologie nach dem Konzil. Personen, Programme, Positionen (=Kirche und Konfession. Veröffentlichungen des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes, Bd. 26), Göttingen 1987, 86.

7 Hanke, Thomas: Kants Philosophie der Offenbarung. Ein Itinerarium der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft in religionsphilosophischer und vernunfttheoretischer Absicht, in: Fisch, Norbert/Sirovátka, Jakub: Vernunftreligion und Offenbarungsglaube (=Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte, Bd. 16), Freiburg i.Br. – Basel – Wien 2015, 277—296, hier: 284.

8 Früchtl, Josef: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt a.M. 1996, 482.

9 Knauer, Peter: Der Glaube kommt vom Hören. Ökumenische Fundamentaltheologie, Freiburg i.Br. – Basel – Wien 61991, 200. Hier online abrufbar. Kant selbst schreibt: „Auf solche Weise allein unterscheidet sich innerlich Religion von Superstition; welche letztere nicht Ehrfurcht für das Erhabene, sondern Furcht und Angst vor dem übermächtigen Wesen, dessen Willen der erschreckte Mensch sich unterworfen sieht, ohne ihn doch hochzuschätzen, im Gemüte gründet: woraus denn freilich nichts als Gunstbewerbung und Einschmeichelung, statt einer Religion des guten Lebenswandels, entspringen kann.“ (KU, B 108f.).

martin höhl

hat Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Frankfurt studiert. Er arbeitet in einer Unternehmensberatung und promoviert zum Thema Klerikalismus und Missbrauch.

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