Um die Beteiligung der KjG Rottenburg-Stuttgart am CSD in Stuttgart wird rege gestritten. Wie kann sich die Kirche gegenüber dem CSD positionieren? Martin Höhl mischt sich in die Debatte ein und liefert einen Vorschlag.
Vor 49 Jahren in einer Bar: Eine bunte Mischung von Menschen sitzt beisammen; man trinkt, lacht, unterhält sich. Plötzlich: „Polizei“. Eine Razzia. Neun Polizist*innen betreten den Raum und nehmen Angestellte fest. Grund: keine Lizenz zum Alkoholausschank. Auch einige Gäste werden festgenommen – Männer, die als Frauen verkleidet waren. Weil sie verkleidet waren. Soweit nichts Unübliches. Auf der Straße versammeln sich immer mehr Menschen. Die Stimmung heizt sich auf. Flaschen fliegen. Die Polizist*innen verbarrikadieren sich, rufen Verstärkung. Widerstand kommt unerwartet. Rund 400 Leute finden sich zusammen, protestieren vorm „Stonewall Inn“ in Greenwich Village/New York. Am 28. Juni 1969, am 29. Juni 1969 und in den folgenden Tagen. Ein Jahr später: eine Demonstration durch die Christopher Street. Der CSD („Christopher Street Day“) war geboren.
„Freude und Hoffnung“
Worum geht es den Veranstalter*innen der CSD-Paraden heute, nachdem die „Ehe für alle“ auch in Deutschland eingeführt wurde? Eine der weltweit größten Demos, der CSD in Köln, fand in diesem Jahr unter dem Slogan „Coming-out in DEINEM Style“ statt. Es ging um den für homosexuelle Jugendliche so wichtigen Schritt, zu sich selbst stehen zu können und dies anderen gegenüber zu artikulieren. Alle so, wie und wann es für sie passt, ohne Angst vor Mobbing und Repressalien.
Obwohl sich der CSD natürlich schrill und als feuchtfröhliches Fest präsentiert, geht es im Kern um ganz selbstverständliche Anliegen:
„Wir outen uns, um unser Leben zu leben. Wir streben nach Gleichberechtigung. […] Wir outen uns in der Kirche, in der Synagoge, in der Moschee und im Tempel.“
Das Ziel der Veranstaltung ist keineswegs die Umpolung der Gesellschaft oder die Abschaffung der klassischen Familie, wie manche Theolog*innen befürchten – so etwa Kilian Martin, wenn er die Teilnahme der KjG am CSD Stuttgart als „Provokation“ und „Selbstzweck“ verunglimpft.
„Expedition WIR“
Auch beim CSD in Stuttgart kann nicht die Rede von einer Aufforderung zur „radikale[n] Reform des Ehe- und Familienbildes“ sein. Das Motto „Expedition WIR“ wirbt für Zusammenhalt in der Gesellschaft: Es gebe noch immer Diskriminierung Homosexueller, etwa in den Schulen, und eine „überdurchschnittliche Selbstmordrate von queeren Jugendlichen“. Natürlich geht es auch um gesellschaftliche Entwicklungen, aber:
„Niemand vermag dabei konkret zu wissen, wie genau diese Gesellschaft aussehen soll und wie sie aussehen wird.“
(Zum Motto des CSD Stuttgart)
Das Ziel ist es, den Prozess gemeinsam, „auf Augenhöhe“ und mit Rücksicht auf Minderheiten zu gestalten. Klassische Familienbilder und -ideale stehen nicht zur Debatte. Es treten lediglich – und das ist die Forderung – gleichberechtigt andere Lebensentwürfe daneben. Niemand soll in irgendeiner Weise „bekehrt“, „umgepolt“ oder eingeschränkt werden. Aber gibt es wirklich Theolog*innen, die glauben, dass ein CSD aus einem glücklichen heterosexuellen Mann einen schwulen Sünder oder das strahlende Ideal der christlichen Ehe aus einer lesbischen Frau eine heterosexuelle Braut machen wird? Kilian Martin lässt jedenfalls offen, wie so eine „radikale Reform“ aussehen soll und welches Ehe- und Familienbild er im Blick hat, das es nicht schon längst gäbe.1
Die KjG nun begründet ihre Teilnahme damit,
„auf die Lebensrealitäten von gesellschaftlichen Minderheiten aufmerksam machen [zu wollen], die aufgrund ihrer sexuellen Identität ausgegrenzt werden“.
Die überaus positive Resonanz zeigte sich darin, dass die Veranstalter*innen des CSD die KjG mit einem Preis auszeichneten: Sie honorierten den Einsatz der Jugendlichen, die als Christ*innen und als kirchlicher Jugendverband Farbe bekannt haben, und illustrierten so, wie wichtig gläubigen Homosexuellen die Akzeptanz als Teil von Gesellschaft und Kirche ist. Wie bei Reizthemen üblich hat der entsprechende katholisch.de-Artikel rund 400 Kommentare bei Facebook (Stand: 02.08.), die von einem begeisterten „So und nicht anders!“ über „Häresie“ bis zu nicht zitierfähigen Beleidigungen reichen.
„Trauer und Angst“
Mit Jugendbischof Stefan Oster wirft Kilian Martin den Jugendverbänden „zu viel Politik und zu wenig Glaube“2 vor. Wenn der Einsatz der Jugendverbände gegen Diskriminierung wirklich „zu viel Politik“ sein soll, hat die Kirche ein massives Problem. Man kann sich fragen, wie „Neuevangelisierung“, die Martin als eigentliches „Kernthema“ der Verbände identifiziert, unter diesen Prämissen stattfinden soll: Ist der Ausgangspunkt einer möglichen Evangelisierung nicht immer die Zusage der bedingungslosen Liebe Gottes?
Gemäß dem Motto „Schlimmer geht immer“ treibt der um keinen noch so homophoben Beitrag verlegene Weihbischof Athanasius Schneider die Sache auf die Spitze. Eigentlich sind seine Ausführungen wirklich nicht zitierfähig. Aber sie werden gehört, auch außerhalb der Kirche. Deshalb bedürfen sie einer Auseinandersetzung. Schneider geht von der Grundthese aus, dass es eine Verschwörung politischer Akteur*innen gibt, die sich mit finanzkräftigen Unternehmen und „mächtigen Organisationen“ verbündeten „mit dem Ziel, der Gesellschaft eine bestimmte Ideologie aufzuzwingen“. Dabei fallen die Ausdrücke „totalitäres System“ und „Regime“ mehrfach. Eine Perversion, wenn man sich vor Augen führt, wie gerade Homosexuelle unter solchen totalitären Regimen litten und leiden.
Die Kirche, so Schneider stolz, sei die letzte „Widerstandbastion [sic]“, die sich gegen den „Totalitarismus der Ideologie der Homosexualität bzw. der Gendertheorie“ stelle. Doch die Mauern würden von innen geschliffen: Immer mehr Katholik*innen scheinen zu realisieren, dass diese Abschottung in eine Sackgasse führt und öffnen sich der LGBTIQ-Community. Schneider zeigt sich darüber empört und spricht mit einer grotesken Faszination über die „Städte der islamischen Welt“, in denen „Pride-Märsche“ „aus Furcht vor vorhersehbaren gewalttätigen Gegenreaktionen“ nicht möglich seien.
Mitleid – für wen?
Katholik*innen müssten, so Schneider weiter, natürlich zunächst Mitleid haben, aber doch klarstellen, dass man es hier mit einer „seelischen Behinderung“ zu tun habe, die nicht selten das Eintrittsticket in die Hölle beinhalte. Als wäre das nicht weltfremd genug, setzt er – ganz episkopal – an das Ende seines Textes ein Gebet: „Ich werde keine Angst haben vor dem neuen politisch-ideologischen Totalitarismus der Gendertheorie, weil Christus mit mir ist.“ Eine solche Verzweckung des Gebets ist reine Blasphemie. Wer so gegen die ihm anvertraute Herde an-beten muss, die eben auch aus rosa Schäfchen und Hirten besteht, scheint seiner Aufgabe in einer modernen Gesellschaft nicht gewachsen. Wie sollen angst- und hasserfüllte Menschen fröhlich tanzende und ausgelassen feiernde Pride-Besucher*innen vom Glauben begeistern? Ist das die Art der „Neuevangelisierung“, die Kilian Martin und Stefan Oster im Blick haben?
Hoffnung
Solange irgendwo auf der Welt Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität diskriminiert oder gar verfolgt werden und sich selbst in Deutschland Einzelne wegen ihrer Familie, ihres Freundeskreises, Ordensoberen oder ihres Regens fürchten, öffentlich zu sich zu stehen, muss es die vornehmste Aufgabe der Kirche sein, für diese Menschen bedingungslos einzutreten, sie zu begleiten, ihnen den Segen Gottes zuzusprechen und sie in die Mitte der Gemeinde zu stellen, statt ihnen wegen theologisch abwegiger Positionen mit Misstrauen und Ablehnung zu begegnen. Nimmt man die Forderung in Gaudium et Spes 1 ernst, sich mit allen Menschen zu solidarisieren, muss Kirche das „Wagnis“ eingehen, auch mit homosexuellen Menschen über ihre „Freude, Hoffnung, Trauer und Angst“ zu sprechen – wie es die Stuttgarter*innen sich selbst zur Aufgabe machen:
„Auf dem langen Weg zum Wir begegnen wir unseren Mitmenschen, innerhalb und außerhalb der eigenen Komfortzonen. Dabei lernen wir uns gegenseitig (besser) kennen und verstehen, was andere jeweils bewegt, was uns antreibt und was uns Kraft verleiht. Nicht alles, was uns begegnen wird, wird uns gefallen. Nicht zu allen werden wir eine Verbindung aufbauen können. Manches, was wir erfahren und erleben werden, wird uns überraschen. Vielleicht erkennen wir auch Dinge an uns selbst, die wir nicht wahrhaben woll(t)en. Wir lernen uns auf diese Weise aber auch selbst besser kennen. Darum ist diese Entdeckungsreise, die Expedition WIR, nicht zuletzt ein Wagnis.“
(Zum Motto des CSD Stuttgart)
Hashtag: #happypride
[1] Dass die Rede davon sowieso prekär ist, problematisiert Laura Mayer in einem anderen y-nachten-Beitrag.
[2] Martin verweist hier auf Osters Antrittsbesuch bei den Verbänden.
Und für alle, die immer noch meinen, die Bibel teile ihre Homophobie und stütze die These „Homosexualität ist Sünde“, sei dieser Artikel Jürgen Ebachs empfohlen: https://www.evangelisch.de/inhalte/91368/02-02-2011/bibelauslegung-homosexualitaet-ein-graeuel.