Die katholische Kirche ist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr ganz so sexy. Wenn sich jemand zu ihr bekennt, dann oft eher beschämt. Neueren christlichen Bewegungen geht es da anders. Carla Tiefenbacher schreibt, was das mit kirchlicher Monopolstellung zu tun hat und wie sie an ihrem sex appeal arbeiten kann.

Freikirchen sind ein gruseliges Phänomen. Ihr Auftritt, besonders ihre Kommunikation, ist ungewohnt, sie entziehen sich bekannten kirchlichen Ritualen, tragen ein eigenes Verständnis von Hingabe und Aufopferung zur Schau, dessen Pendant in katholischem Rahmen zu Floskeln und ästhetisch streitbaren Jesusstatuen verkommen ist, und propagieren moralisch ähnlich fragwürdige Positionen wie die des eigenen Vereins. Dieser Artikel möchte ein Erklärungsversuch sein, wieso Menschen vom einzig wahren, in Konrad Beikirchers treffenden Worten, „normalen Glauben“1, abfallen und sich euphorischen Reaktionären zuwenden. Hierzu das Dogma meiner akademischen Heimat: Zahlen sind gut, Zahlen schenken Vertrauen. Daher im Folgenden drei Fragen zur Lage der göttlichen Nation.

1. Was treibt uns in Kirchen?

Der unbändige Glaube allein, ja sicher. Bisher fielen mir, abseits von der Suche nach dem richtigen Moralkodex, fünf Faktoren ein. Zunächst nostalgische Kindheitserinnerungen: jene altvertrauten Rituale, die Freikirchen scheinbar profanisieren. Osternächte in dunklen geheimnisvolle Kirchen, in die von fast richtig intonierten Lumen-Christi-Rufen die göttliche Erlösungsbotschaft in kratzenden Kutten und die Aussicht auf ein üppiges Frühstück einzog. Weihrauch! Die Musikauswahl und die Bewahrungsinstinkte des kirchlichen Geheimnisses! Wehe, wenn der Kirchenchor sich um zwanzig Jahre verjüngt und mit den nun 50-60-Jährigendas Repertoire zugunsten fetziger Neuer Geistlicher Lieder abändert. Die vielen kleinen Rituale zu kennen, Teil der Gemeinschaft der zu sein und dazu endlich herausgefunden zu haben, welche Texte Eingeweihte an scheinbar willkürlichen Stellen murmeln. Im gleichen Rahmen gilt es, dem Hampeln und etwaigen Bewegungen abseits des strikt geordneten Kniens Einhalt zu gebieten. (Die sind nämlich für unerzogene Kinder und Muslime reserviert.)

Aus dieser Vertrautheit mit sozialen Normen ergibt sich für mich ein Heimatgefühl, dessen Kern negativ formuliert aus dem Kennen und Überwindenkönnen der eingebauten Hemmschwellen besteht. Das nasse Kreuzzeichen vor dem Tabernakel fungiert als Haustürschlüssel, der Karfreitags-Walk-of-Shame zur Kreuzanbetung oder die mit belehrenden Augenbrauen geführte Großelterndiskussion, ob man den Leib/Laib des Herrn zerkaut oder nur von Speichel bearbeitet auf Magenzersetzungsreise schickt, sind vertraute Mutproben: Weißt du Bescheid? Gehörst du dazu?

Diese Heimat in vielfältigen sozialen Engagements zu formen, ist sicher ein weiterer kirchlicher Pullfactor. Sich gesellschaftsrelevant fühlen (und das auch sein), einen Beitrag leisten, ein Sozialsystem weiter- und sich fester darin einstricken, erlebte ich als sehr bereichernde Erfahrung. Und schließlich möchte Kirche auch einen Ruhepol inmitten des Alltags bieten, und zu einem erfahrungsgemäß verschwindend geringen Teil persönliche Begleitung und wertfreie offene Ohren, scheitert aber an systemischen Voraussetzungen und an Küchensesseldogmatiker*innen. Von außen betrachtet, vermitteln Freikirchen in einigen Punkten dieses Heimatgefühl entschieden überzeugender. Und so schließt sich die zweite große Frage an:

2. In welche Kirchen treibt es uns?

Ein Faktor mag sicherlich die Sozialisierung sein, aber diese Erklärung greift zu kurz. Als die Politikwissenschaft mit ungefähr 34,5 Lichtjahren Abstand zu vielleicht allen anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen herausfand, dass Religion doch ein wichtiger Faktor des menschlichen Zusammenlebens sein könnte, entbrannte eine hitzige Debatte um das Paradigma der Säkularisierung. Wenn Fortschritt zum Aussterben des Glaubens führt, wie erklären sich die USA? Eine desakralisierte Welt, die ehemals ausschließlich religiöse Inhalte der öffentlichen Sphäre durch profane ersetzt, scheint nicht notwendigerweise weniger gläubig. Wieso also variieren Teilnahmeraten selbst in ähnlich wirtschaftlich fortgeschrittenen Gesellschaften um mehrere zweistellige Prozentpunkte? Und relevant für uns: Was macht Freikirchen so viel sexier als die möchtegernpostkonziliaren katholischen Strukturen?

Als bestes aller möglichen Erklärungsmodelle etablierte sich die Rational Choice Theorie.3 Es fußt auf folgenden Annahmen:

  1. Das Bedürfnis nach Religion ist konstant.
  2. Die Aufgaben einer religiösen Firma, in unserem Fall Jesus und Fußstapfenfüller*innen, sind, Religion als institutionelles Rahmenprogramm (im Gegensatz zu spirituellen Inhalten der Gläubigen) zu schaffen, zu erhalten und einer bestimmten Zielgruppe anzubieten.
  3. Diese religiösen Firmen agieren in der religiösen Ökonomie, soll heißen, auf einem Marktplatz, auf dem potenzielle und aktive Kund*innen unterwegs sind, und verschiedene Firmen verschiedene Produktlinien (Konfessionen) anbieten. Dieser Markt wird von der Wechselwirkung zwischen der unsichtbaren Hand des Zivilstaates4 und der Lobbyarbeit erfolgreicher religiöser Firmen bestimmt.

Unter diesen Voraussetzungen stellen die Religions-Rational-Choice-Pioniere Iannaccone und Stark fest, dass je mehr religiöse Produkte verfügbar sind, desto mehr Menschen insgesamt an einem davon teilnehmen (ein von einschlägigen Supersupermärkten als wahr erhofftes Konzept). An diesem Punkt nähern wir uns der fundamentalen Überheblichkeit der römisch-katholischen Kirche, die auf moralisch hohem Ross sitzend über Freikirchen spottet: Existenzgrund des religiösen Marktplatzes ist, dass eine religiöse Firma niemals allen Ansprüchen gerecht werden kann. Radikal selbstentäußerter Gott, verantwortlicher Gott, homophober Gott, Alles-wird-gut-Gott: ein einheitlicher Gottesbegriff und ein moralisches Gesamtpaket lassen immer diejenigen auf der Strecke, die einen Strahl jener Wahrheit noch nicht erkannt haben.

Das Erkennen der einen Wahrheit (deskriptiver formuliert: des einen Legitimitätsanspruchs) aber ist in Iannaccone und Starks Augen doch Kernanliegen eines religiösen Unterfangens. Also streben Firmen, je größer sie werden, desto stärker nach Hegemonialstellung. An diesem Punkt angekommen, beeinflussen sie Regierung und Regularien, ihr Einfluss auf die Gesellschaft wird in Form von Sakralisierung der öffentlichen Sphäre sichtbar, und der Marktplatz wird zunehmend antipluralistisch reguliert.

Nachdem trotz Monopol die Überzeugungsarbeit doch nicht so richtig erfolgreich war, nun das Legitimitätsproblem. Stellt sich der Monopolist breit genug auf, um allen Ansprüchen zu genügen? Unmöglich, ohne die Kernaussage zu verlieren. Also manifestiert er die Thesen, mit der er erfolgreich geworden ist, und riskiert so nach und nach die Abwanderung der Kund*innen in den suchenden Zustand oder die Teilnahmslosigkeit. Auch das ist empirisch belegt; je zementierter die Monopolstellung einer Kirche, desto geringer die Teilnahmeraten. Aus wissenschaftlich (noch) nicht geklärten Gründen entscheidet sich ein Staat möglicherweise, Religion zu deregulieren, und in diesem Übergangsprozess sinken Startkosten für neue religiöse Firmen, die den Zahn der Zeit eher befriedigen. An diesem Punkt längst angekommen, stellt sich für die deutsche römisch-katholische Kirche also die letzte Frage:

3. Wie treiben wir sie in die Kirche zurück?

Halten wir fest: Freikirchen sind sexier, weil sie Bedürfnisse der suchenden Gläubigen erfüllen, und die römisch-katholische Kirche diesem Anspruch nicht nachkommt. In Abwesenheit von Patentrezepten, um den Kreislauf des religiösen Marktes aufzuhalten, stellt sich nun die Frage: Wie viel Mut kann die Kirche aufbringen? Fährt sie fort, neben halbherzigen Modernisierungsversuchen ihren schon längst besiegelten Verfall anzuerkennen? Oder greift sie ein, besinnt sich auf eine kleinere Gruppe an noch bei der Stange gebliebenen Gläubigen, denen sie bestmögliche geistliche und soziale Begleitung bietet? Um mit den Gesetzen des Heiligen Geistes der Werbung zu sprechen: Kenne Deine Zielgruppe, ertaste ihre Bedürfnisse und schaffe eine Notwendigkeit für Dein Produkt. Ist die Kirche in der Lage, durch ihre Taten und Angebote attraktiv zu werden statt durch ihren Universalitätsanspruch?

Hashtag der Woche: #frischvommarkt


(Beitragsbild von @vladsargu)
Literatur:

1 Pointierte Beobachtungen über den rheinischen Katholiken, zum Beispiel: Konrad Beikircher TV (2017): “500 Jahre falscher Glauben”. https://www.youtube.com/watch?v=NTKFUg93izo. (abgerufen am 14.7.18)

2Eine wirklich sehr gründliche Debatte, die zum Beispiel Jonathan Fox kondensiert: Fox, Jonathan (2013): Secularization and Secularism”. In: An Introduction to Religion and Politics Theory and practice. London and New York: Routledge, Taylor & Francis Group. Pp. 17-35.

3 Gurus hier sind: Stark, Rodney and Laurence R. Iannaccone (1994): A supply-side reinterpretation of the secularizationof Europe”. Journal for the Scientific Study of Religion 33(3): 230-252.
Alternativ auch ein an “religiösen Verbraucher*innen” ausgerichtetes Modell, das Feind*innen der Rational Choice eine Erklärung für variierende Religiösität liefern könnte: Norris, P., & Inglehart, R. (2011). Sacred and secular: Religion and politics worldwide. Cambridge University Press.

4 Exkurs in Adam-Smith-Exegese, Desakralisierung des Alltags und Heiligenverehrung: Kennedy, G. (2009). Adam Smith and the invisible hand: From metaphor to myth. Econ Journal Watch, 6(2), 239.

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carla tiefenbacher

studiert Liberal Arts and Sciences an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und ist angehende Mediatorin.

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