Und noch einmal Ratzinger. Nach den Gedanken von Benjamin Bartsch schließt nun Philipp Graf einige exegetische Anfragen an den viel diskutierten Text des emeritierten Papstes an. Ist das Alte Testament einfach mit der jüdischen Heiligen Schrift gleichzusetzen?

Der Griff, um Joseph Ratzingers jüngst veröffentlichte Äußerungen1zum jüdisch-christlichen Dialog aus exegetischer Sicht zu kommentieren, geht nicht weit — zu einem Standardwerk der katholisch-alttestamentlichen Exegese: dem „Zenger“.Dort findet sich unter der Kapitelüberschrift „Heilige Schrift der Juden und Christen“ die wichtige Unterscheidung zwischen dem TaNaK (sprich: „Tanach“), der Heiligen Schrift des Judentums, und dem Ersten Testament als dem ersten Kanonteil der christlichen Bibel.

Mangelnde Sensibilität für Differenzierungen

Die sog. Substitutionstheorie differenziert Ratzinger, bis die Balken krachen (392); jene notwendige Unterscheidung lässt er hingegen vermissen:

So besteht der christliche Kanon von seinem Wesen her aus zwei Teilen: dem „Alten Testament“, der Schrift Israels und nun des Judentums, sowie dem „Neuen Testament“, das von Jesus her den Weg der Auslegung des Alten authentisch klärt. (389)

Für Ratzinger gilt: Altes Testament (AT) = Heilige Schrift des Judentums (vgl. weiterhin 388, 390, 396, 406). Noch grotesker:

Der heilige Lukas erzählt uns, dass Jesus, der Auferstandene, auf dem Weg mit zwei Jüngern sie zugleich einen inneren Weg führte. Er liest gleichsam mit ihnen das (sic!) Alte Testament neu. (398)

Das ist Geschichtsvergessenheit: Die heiligen Schriften Jesu und seiner Jünger*innen waren niemals das AT, sondern sind dies erst durch die (nachjesuanische!) Entstehung des Neuen Testaments geworden. Binnenkirchlich mag das wenig Wirbel verursachen – geschenkt! Die Einleitung Kardinal Kochs sieht diesen Artikel allerdings als bereichernden Beitrag für den jüdisch-christlichen Dialog. Deshalb muss unterstellt werden, dass er im Angesicht des Judentums geschrieben ist. Dann aber lässt die Gleichsetzung von christlichem AT und Hebräischer Bibel jede Sensibilität vermissen. Hier tut Differenzierung not.

Eine notwendige Unterscheidung: Zwei verschiedene Bibeln

Nach Ratzinger habe das Christentum die Septuaginta („70“ = LXX), die griechische Übersetzung aus den hebräischen heiligen Schriften, „faktisch als kanonisch anerkannt neben und mit der hebräischen Bibel“ (389). Das stimmt nur teilweise. Die Vulgata als lateinische Übersetzung der hebräischen Texte folgt der Anordnung der biblischen Bücher in der LXX:

1.   Fünf Bücher Mose
2.   Bücher der Geschichte
3.   Weisheitsliteratur inkl. Psalmen
4.   Propheten

Moderne Übersetzungen haben diese Vierteilung übernommen. Die Kirche hat also in Form der Vulgata allenfalls den hebräischen Wortlaut zu einem Maßstab der Exegese erhoben, nicht aber die Anordnung der Hebräischen Bibel. Diese hat seit ihrer Kanonisierung eine Dreiteilung, die sich im Akronym TaNaK verbirgt:

1.   Tora: fünf Bücher Mose
2.   Nebiim: Vordere Propheten (= Geschichtsbücher) und Hintere Propheten (= Jesaja bis Maleachi)
3.   Ketubim: Schriften (= Weisheitsliteratur inkl. Psalmen sowie das sog. Chronistische Geschichtswerk).

Ratzinger formuliert dagegen höchst missverständlich:

Traditionell ist das Alte Testament in drei Arten von Büchern aufgeteilt: Tora (Gesetz) – Nebiim (Propheten) – Ketubim (Weiheitsbücher und Psalmen). (391)

Die Leser*innen können nun nachvollziehen, dass dieser Satz falsch ist. Das Judentum wird fragen, warum Ratzinger den TaNaK zum AT umtauft. Die Kirche kann fragen: Wo sind denn die Geschichtsbücher geblieben und warum stehen die Propheten nicht am Schluss des AT?

Zwei Bibeln – zwei Sichtweisen

Ist diese Unterscheidung bibelwissenschaftliche Haarspalterei? Nein! Allein die letzten Verse des jeweiligen Kanons zeigen, wie wichtig sie für das nicht deckungsgleicheGeschichtsverständnis der beiden Religionen ist.

Das Ende des christlichen AT blickt auf das erneute Kommen Elijas, der eine neue Heilszeit ankündigt (vgl. Mal 3,23–24). Elija sahen die frühen Christ*innen in Johannes dem Täufer gekommen, die Heilszeit mit Jesus. Der Punkt: Die ältesten Manuskripte der LXX „sind bereits christliche Bibeln“4, d. h. die einzelnen Bücher der LXX wurden dem christlichen Geschichtsverständnis entsprechend angeordnet – ein christologisch motivierter Eingriff in die innerbiblisch sichtbaren Kanonisierungsprozesse. Diese geben eigentlich der jüdischen Anordnung Recht.

Die Situation, in der das Judentum seine Bibel kanonisiert, ähnelt einer vertrauten Situation: Wie nun (70 n. Chr.) die Römer, so haben schon 587 v. Chr. die Babylonier den Tempel zerstört. Der TaNaK kündigt daher nicht zufällig in den letzten Versen die Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels nach dem babylonischen Exil an (vgl. 2 Chr 36,22–23). Eine Hoffnungsbotschaft: Gott hat schon einmal ein Exil aufgrund seiner Treue zum Bund mit Israel beendet.Die Wallfahrt zum Tempel wird wieder möglich sein. Vom endgültigen Exil (vgl. 402) keine Spur! Diese Hoffnungsperspektive kann zudem nicht auf das Kommen des Messias reduziert werden. Das hat Ratzinger (vgl. 396) durchaus gesehen.

Dass die Hoffnung immer weniger auf irdische und politische Macht verweist und die Bedeutung der Passion als Wesenselement der Hoffnung immer mehr in den Vordergrund tritt (ebd.),

ist aber mit der jüdischen Geschichtssicht inkompatibel. Angesichts der leidvollen jüdischen Geschichte ist Ratzingers Interpretation der jüdischen Hoffnung mit dem christlichen Schlagwort der Passion (= Leiden) geradezu zynisch.

Unkenntnis kanonhermeneutischer Diskussionen

AT und TaNaK offenbaren also eigenständige Perspektiven auf die Geschichte Gottes mit den Menschen, die angesichts des menschlichen Unwissens über das Ziel der Geschichte legitim bleiben und nicht aufeinander reduziert werden können. Die Eigenständigkeit der jüdischen Geschichtstheologie verbietet es, dem TaNaK durch die Gleichsetzung mit dem AT die christliche Perspektive aufzudrücken und ihn de facto zu christianisieren. Ratzinger tut aber genau das in vielen Anmerkungen und geht dadurch seiner modifizierten Substitutionstheorie (vgl. den Artikel von Benjamin Bartsch) auf den Leim. Er ignoriert also nicht nur den aktuellen jüdisch-christlichen Dialog, sondern auch die laufende „intensive und kontroverse kanonhermeneutische Diskussion“6. Kurz: Er hätte vor dem Schreiben seine sicherlich welk gelesene Vulgata-Ausgabe neben die Hebräische Bibel legen sollen, um diesen fundamentalen Unterschied zu bemerken.

Hashtag der Woche: #bibelnachhilfe


(Beitragsbild: @Tanner Mardis)

1 Ratzinger, Joseph: Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat „De Iudaeis“ mit einem Geleitwort von Kurt Kardinal Koch, in: IKaZ 47 (2018) 387–406 (im Text mit Seitenzahlen zitiert).

2 Hier wird die vorletzte Auflage zugrunde gelegt: Zenger, Erich u. a.: Einleitung in das Alte Testament, achte, vollständig überarbeitete Auflage hg. von Christian Frevel (Studienbücher Theologie 1,1), Stuttgart 2012.

3 Vgl. Frankemölle, Hubert: Kanon, in: Berlejung, Angelika; Frevel, Christian (Hg.): Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 52016, 281–283, 282.

4 Grätz, Sebastian (Vorsicht: evangelisch!): Kanonbildung, in: Dietrisch, Walter (Hg.): Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen, Stuttgart 2017, 96–110, 108.

5 Vgl. Zenger 26.

6 Frankemölle 283.

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philipp graf

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Altes Testament an der TU Dortmund. In seiner Dissertation betrachtet er das Buch Josua unter rollentheoretischer Perspektive.

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