In einer 2017 erschienen Novelle über den Heiligen Antonius taucht unerwartet ein Zitat aus einem großen amerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts auf. Zufall? Annika Schmitz versucht zu ergründen, wie die Kategorien des Heiligen in der Gegenwartsliteratur verhandelt werden.

Berthild von Chelles, Florentius von Strassburg, Guntmar von Nivesdonck, Peregrinus von Caltabellotta, Rasso von Andechs, Sigismund von Burgund – das sind nicht Deutschlands unbeliebteste Vornamen 2018, sondern die Heiligen, die man bei Knochenbrüchen anrufen kann. Ich weiß das deswegen so genau, weil ich mir vor einigen Jahren unglücklicherweise den Fuß gebrochen habe und mit zwei Theologenfreunden in der Notaufnahme saß. End of story.

Während Peregrinus, Rasso und Co eher in die Kategorie „Notfall-Heilige“ gehören, die man erst einmal googeln muss und von deren Existenz man auch nach jahrelangem Theologiestudium nichts weiß, gibt es natürlich auch noch die Evergreens unter den Heiligen. Die Backstreet Boys und Spice Girls quasi – die kennt man irgendwie, auch wenn’s lange her ist, und wenn die Party mal nicht läuft, bei Everybody stürmen alle die Tanzfläche. Ein solcher Evergreen ist der Heilige Antonius von Padua. Etwas verloren? Liebeskummer? Oder auf der Suche nach der ganz, ganz großen Liebe? Heiliger Antonius, bitte für uns!

Der Hl. Antonius in der Gegenwartsliteratur

Und ihm, dem Hl. Antonius, wurde im vergangenen Jahr eine Novelle von Michael Köhlmeier gewidmet,  die unter dem Titel Der Mann, der Verlorenes wiederfindet publiziert worden ist.1

Die Theolog*innen horchen auf: Religiöse Motivik in der Gegenwartsliteratur, krass ey! Das passt so gar nicht zu unserem Bild von der verlotterten und entgleisten Moderne, die mit dieser Religion und dieser Kirche nichts mehr anfangen kann. Stattdessen eine Novelle, die einen Heiligen aus dem Mittelalter in den Mittelpunkt stellt, dessen Geschichte bei Hanser im Klappentext schnell erzählt ist:

„Antonius liegt auf dem Platz vor der Kirche. Er hatte die Schmerzen nicht mehr ertragen, die Straße nach Padua war gepflastert und der Wagen hart gefedert. Jetzt liegt er da und sieht den italienischen Himmel. Und er erinnert sich an alles, was ihn hierhergebracht hat, von der Kindheit in Portugal bis in den Orden des heiligen Franziskus.“

Spannend bei Köhlmeier ist indes, dass er die bekannte Legende literarisch in Bezug zu der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern verfasst, indem er auf ebenjene zwei Textcorpora über siebzig Mal explizit in Zitatform verweist.

Ein Sprung ins 20. Jahrhundert

Wirklich interessant werden ebenjene Bezüge aber eigentlich erst dort, wo sie aus dem gewohnten System ausbrechen. Dieser Fall tritt erst gegen Ende der Novelle ein, wenn es da heißt

 „Ein Vorhang hebt sich über der westlichen Welt. Ein feiner Regen aus Ruß …“ (Köhlmeier, 120)

Das Zitat entstammt dem 1979 erschienenen Roman Suttree von Cormac McCarthy, ins Deutsche 1992 übersetzt mit dem Titel Verlorene.2 Sowohl der Titel als auch der Name des Autors lassen aufhorchen: Sicherlich hat Köhlmeier nicht unbewusst mit dem Titel seiner Novelle auf Verlorene zurückgegriffen; mit dem Verweis auf McCarthy hat er zudem den Rekurs auf jenen preisgekrönten amerikanischen Autor gewählt, der wie ein Phantom durch den Literaturbetrieb geistert und der in all seinen archaischen und rohen, gewaltträchtigen Werken eine tiefe religiöse Dimension beschreibt:

„McCarthy’s prose restores the terror and grandeur of the physical world with a biblical gravity that can shatter a reader.“3

McCarthy’s Protagonist Cornelius Suttree ist ein Aussteiger, der die wohlhabende Familie hinter sich gelassen und das College abgebrochen hat – man beachte die Parallelen zu Antonius -, er wohnt auf einem Hausboot im Süden Amerikas der 50er Jahre und lebt von der Fischerei am Fluß, der Knoxville (Tennessee) von seinen reichen Bewohnern und der restlichen, vergessenen, in absoluter Armut lebenden Bevölkerung trennt.

Suttree „ist ein mythischer Held mit modernem Bewußtsein, geschichtsschwer, listig, unabhängig, ein Stephen Dedalus in der Phantasmagorie des Westens.“4

Der moderne Held als Heiligenfigur

Kurz vor der Predigt des Antonius, während er in einem Delirium vor sich hin siecht, wirft Köhlmeier das Zitat aus Verlorene ein und schließt folgende Gedanken des Priors an:

„Die neue Zeit brauchte einen Prediger. Und ein Prediger brauchte Worte, er hatte mehr Worte nötig als der, der zuhörte.“ (Köhlmeier, 120)

Suttree hingegen ist kein Prediger des Wortes, sondern der Taten. Wie Antonius auf dem Weg zu seiner letzten Predigt ist, so ist Suttree unterwegs in der Nachbarschaft: Er hört zu, besucht die Vergessenen, bestattet die Toten, rettet das Leben des Landstreichers Harrogate, der auf der Suche nach Gold die Kanalisation der Stadt in die Luft sprengt, er teilt sein Essen und verteidigt die Schwächeren vor der Willkürherrschaft der Polizei.

Keineswegs jedoch zeichnet sich Suttree durch einen moralisch vollständig überlegenen Charakter aus, das Gegenteil ist der Fall: Er trinkt zu viel, er prügelt sich, geht eine Partnerschaft mit einer Prostituierten ein und unterhält eine sexuelle Beziehung mit der minderjährigen Tochter seines Freundes.

Noch manches andere Mal erscheint es, als ob Köhlmeier an McCarthy entlang schreibt – wenn Antonius von den Mitbrüdern gefüttert wird um anschließend in ein fiebergeschütteltes Delirium zu fallen und Suttree, der nach dem Tod des Vaters eine Wunderheilerin aufsucht und von ihr einen übelriechenden Trank eingeflösst bekommt, der ihn für die nächsten Stunden in einen Wahn versetzt; wenn sich die Träume beider Männer mit der Realität vermischen. Oder wenn die Frauen und Männer, eine jede, ein jeder von ihnen mit eigener Geschichte, zu Antonius strömen und all ihre Hoffnung auf ihn setzen und er überfordert ist von all den Erwartungen, die an ihn herangetragen werden, dann erinnert dies an Suttree, auf den die Augen der Verlorenen „voller Erwartung“ gerichtet sind, „aber er hatte nichts anzubieten.“ (Mc Carthy, 675)

menschlich sein – heilig sein

Das Böse, über das Antonius theologisiert, ist bei McCarthy in der Landschaft und in der sozialen Interaktion allgegenwärtig. Es bestimmt den Lebensverlauf der Agierenden, seine Herkunft wird nicht hinterfragt, und um zu überleben reihen sich die Menschen ein in jenen Kreislauf der Gewalt, in die Vorherrschaft von Auge um Auge, Zahn um Zahn. Vor dem Hintergrund einer Szenerie, in der das Böse regiert, erscheint die Sittlichkeit, die durch Cornelius Suttree präsentiert wird, wie ein unnatürlicher Fremdkörper und erweist sich dadurch als moralisch umso überlegener, als dass sie just an den Ort gebracht wird, der von sich aus Inbegriff des Archaischen ist. Dagegen wirkt Antonius, der einen Ausweg aus dem Hochmut hin zur gehorsamen Demut sucht, beinahe grotesk. Er will sich noch ärmer, noch demütiger machen,

„er fastete und betete zehn Stunden am Tag und geißelte sich und bewarf sein Gesicht mit spitzen Kieseln und aß Disteln“ (Köhlmeier, 56)

– kurz: Er schafft sich selbst die Hölle, der Suttree zu entfliehen versucht, um Gott näher zu kommen.

Ist hier literarisch eine versteckte Kritik am katholischen Heiligenkult gelungen? Möglich ist es. Suttree ist ein Held und letztlich auch ein Heiliger, weil er so menschlich bleibt. Weil er Fehler macht, weil er trinkt, weil er sich prügelt – und weil er trotzdem Gut von Böse unterscheiden kann und einem zutiefst humanistischen Ideal folgt, das ein Scheitern, ein Verloren-Sein nicht ausschließt.

Der Verlorenheit zum Trotz

Es bleibt die Frage, warum Köhlmeier ausgerechnet auf Verlorene verweist. Versucht er, seine Novelle in die Tradition von Joyce und McCarthy zu stellen? Beiden letzteren wohnt eine immense Sprachgewalt inne, die sich in der vorliegenden Novelle kaum wiederfinden lässt und vermutlich auch nicht beabsichtigt ist. Vielleicht also geht es vielmehr darum, die Novelle im Licht jener Abgründe zu lesen, vor denen auch die Moderne nicht sicher ist. Im Angesicht des amerikanischen Südens der 50er Jahre ermessen sich die Kriterien „christlich“ und „heilig“ nicht mehr an einer blinden Gehorsamkeit gegenüber Gott, sondern am Aufbegehren gegen das Unrecht und die Gewalt, wobei die Motive bezüglich des eigenen Handelns wie bei Köhlmeier nicht zwangsläufig auf biblische Verweise gegründet sind, sondern wie bei McCarthy aus der Autonomie heraus generiert werden.

Am Ende stirbt Antonius. Er „hatte auf Erden nichts mehr zu erledigen.“ (Köhlmeier, 157) Und Cornelius Suttree? Nachdem er dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen ist, verlässt er Knoxville. Der Tote, der halb verwest auf seinem Hausboot liegt, ist nicht er, ist ein anderer. „Der olle Suttree’ss doch nich tot.“ (McCarthy, 732)

Stattdessen befreit er sich von der Stadt mit ihren Säufern und Halbtoten, mit ihren Gewalttätigen und den zerfallenen Träumen, mit ihrem stinkenden Fluss und dem archaischen Lebenswandel.

Doch im Gegensatz zu dem Mann, der Verlorenes wiederfindet, bleibt Suttree ein Verlorener, einer, dessen Erlösung nicht durch Beichte und Absolution in greifbare Hoffnung gewandelt wird:

„Irgendwo im grauen Ufergehölz lauert der Jäger, in der Besenhirse und im getürmten Gedränge von Städten. Seine Arbeit liegt allerorten, und seine Hunde ermüden nimmer. Im Traum habe ich sie gesehen, geifernd und wild, die Augen glühend vor Gier nach irdischen Seelen. Fliehe sie.“ (McCarthy, 734)

Hashtag der Woche: #lostnotfound


(Beitragsbild: @Alexas_Fotos)

1 Michael Köhlmeier, Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. München 2017.

2 Cormac McCarthy, Verlorene. 6. Aufl., Hamburg 1994.

3 Richard B. Woodward, Cormac McCarthy’s Venemous Fiction. In: The New York Times, April 19th 1992.

4 Matthias Matussek, Die Abendröte des Westens. In: Der Spiegel (36) 1992.

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annika schmitz

studierte katholische Theologie in Freiburg, Jerusalem und an der Yale University/USA. An der Universität Wien promoviert sie im Bereich von Literatur und Religion. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Journalistin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

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