Jonatan Burger zeigt auf, wie sich die Darstellung der spätantiken Circumcellionen im Laufe der Zeit gewandelt hat, was damit bezweckt wurde und was man daraus für den heutigen Blick auf die Geschichte lernen kann.

Israel vs. Palästina, Ukraine vs. Russland, Katalonien vs. Spanien: Egal auf welchen länger anhaltenden Konflikt man blickt, immer geht es auch darum, sich als Streiter*in für eine gerechte Sache zu inszenieren und Gegner*innen zu diskreditieren. Verschiedene Erklärungen und Erzählungen über das gleiche Geschehen konkurrieren darüber, medial rezipiert zu werden und somit Deutungshoheit zu erlangen. Und dieses Bemühen erstreckt sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Geschichte, die als Identitätsressource verstanden wird. Externen Beobachter*innen fällt es deshalb oft schwer, den Überblick zu behalten. Kategorien von Gut und Böse scheinen nicht mehr passgenau zu sein. Zu verworren sind die Auseinandersetzungen und zu groß die Anstrengungen, um sich eine halbwegs objektive Meinung bilden zu können.

Das Vergangene als Schlüssel für das Heute

Ein Phänomen aus der Kirchengeschichte, anhand dessen man diese Schwierigkeiten besonders gut nachvollziehen kann, sind die so genannten Circumcelliones. Zunächst scheint es nicht besonders naheliegend zu sein, für ein besseres Verständnis der Gegenwart ausgerechnet eine Zeitreise ins Nordafrika des vierten und fünften Jahrhunderts nach Christus zu unternehmen. Je eingehender man sich mit den Quellen und Forschungsansätzen beschäftigt, desto spannender wird dieses Unterfangen allerdings. Aber auch desto vertrackter.

Denn man erfährt weniger darüber, wer diese ominösen Circumcelliones eigentlich waren, sondern eher etwa darüber, wie die allermeisten Quellen, die über sie Auskunft geben wollten oder auf sie Bezug nahmen, einen aus heutiger Sicht klar interessengeleiteten Umgang mit diesem historischen Phänomen pflegten. Zunächst aber soll anhand der – schon allein was ihren Buchrücken angeht – imposanten Monographie von Brent Shaw „Sacred Violence. African Christians and Sectarian Hatred in the Age of Augustine“ aus dem Jahr 2011 ein knapper Überblick zu den Circumcelliones geboten werden.

Wer waren die Circumcelliones?

Anders als die bisherige kirchengeschichtliche Forschung sieht Shaw in den Circumcelliones weder eine spätantike Spielart gewaltsamer Agrarunruhen noch Vorläufer*innen von religiös legitimiertem Terrorismus. Vielmehr schränkt er die von katholischen Schriftstellern wie Augustinus entworfenen Schreckensszenarien ein: Jenen drastischen Schilderungen der Circumcelliones als Sozialrevolutionär*innen, Assassin*innen und Plünderer*innen kann Shaw nicht viel abgewinnen.

Zwar hätten sich in der Konfrontationssituation zwischen katholischen (und nach dem ersten „schismatischen“ Bischof Donatus so genannten) „donatistischen“, d.h. dissidenten Christ*innen und deren kirchlichen Organisationsstrukturen auch zahlreiche Gewalttaten ereignet. Diese seien aber nicht im Sinne einer Bürgerkriegssituation zu verstehen. Vielmehr hätten sich sowohl katholische als auch dissidente Bischöfe je situativ-spontan gewaltaffiner Gangs bedient, um ihre kirchenpolitischen Ziele zu forcieren.

Diese Freelancer seien – da ihre Mitglieder hauptsächlich Tagelöhner und Erntehelfer waren – als Circumcelliones (lat. circum cellae / circum = rund … um / cellae = Nahrungslager) bezeichnet worden. Ihre Haupttätigkeit hätte nicht darin bestanden, die Gegner*innen zu bekämpfen, sondern eher an Überläufer*innen mit Körperstrafen Exempel zu statuieren, um die opponenten Gruppen gewaltsam binnenzustabilisieren. Diese These von Shaw stößt sich auf den ersten Blick indes in sehr großen Teilen an dem Bild, das Augustinus seinerzeit von den Circumcelliones zu zeichnen versuchte. Mit diesem „Kirchenvater“ beginnt der kurze Schnelldurchlauf durch eine Geschichte voller bewusster Verzerrungen und Instrumentalisierungen.

#01 Die Circumcelliones als Schreckgespenst für das römische Reich?

Augustinus´ Ziel ist die Wiedervereinigung der durch das „donatistische“ Schisma geteilten Kirche Nordafrikas und die Befriedung des Gebiets unter der religiösen Oberhoheit der katholischen Bischöfe. Dafür ist er – obwohl er zunächst davor zurückschreckte, Gewalt gegen Andersgläubige einzusetzen, und diese als nutzloses Mittel zur Überzeugung Andersdenkender abtat – zum Ende seines Lebens bereit, mit militärischer Gewalt vorzugehen, um endlich die Spaltung zu überwinden. Für dieses Ziel muss er allerdings die kaiserlichen Beamten, die zeitgleich mit German*innen-Einfällen im Zuge der Völkerwanderung überfordert waren, von der Notwendigkeit einer staatlichen Intervention überzeugen. Augustinus greift deshalb tief in die rhetorische Trickkiste.

Im Brief 185 an den römischen General Bonifatius aus dem Jahr 417 zeichnet er ein regelrechtes Schreckensszenario: Die Circumcelliones (und mit ihnen die Donatist*innen) drohten, als den eigenen Tod bereitwillig in Kauf nehmende Selbstmordattentäter*innen die gesamte soziale Ordnung zu destabilisieren. Die Katholik*innen, von denen in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls Gewalt gegenüber den Dissident*innen ausgegangen war, werden als hilflose Opfer stilisiert, die nun „gerettet“ werden müssen. Die res factae stehen hinter diesen bestechenden res fictae zurück – dass sich Augustinus auf breiter Linie an den Berichten des römischen Historikers Sallust über die Katilinarische Verschwörung bedient, um seine Argumentation zu untermauern, fällt nicht weiter ins Gewicht.

#02 Die Circumcelliones als Negativbeispiel für brave Mönche?

Parallel zu diesen Bemühungen von Augustinus und seinen katholischen Parteigänger*innen avancieren die Circumcelliones im 5. Jahrhundert schrittweise zu einem beliebten Element in Häresiologien (= Sammlungen von als häretisch verurteilen Glaubensabweichungen) im gesamten Mittelmeerraum. Diese spätantiken Ketzerei-Charts dienen allerdings nicht zur allgemeinen Grusel-Unterhaltung, sondern werden bewusst dafür benutzt, kirchenpolitische Gegner*innen zu verleumden. Von Filastrius von Brescia über Theodoret von Kyrrhos bis hin zu Isidor von Sevilla entsteht unter dem Label Circumcelliones ein immer anschaulicheres, aber wohl auch immer fiktiveres Bild einer obskuren Selbstmörder-Sekte, deren als Mönche lebende Mitglieder allerhand Untaten zu begehen schienen. Nicht zuletzt wird diese negative Kontrastfolie nun in der Folgezeit dazu gebraucht, das sich von der Gesellschaft emanzipierende Mönchtum in geordnete Bahnen des harmlosen klösterlichen Zusammenlebens zu zwängen.

#03 Die Circumcelliones als brutale Vorläufer der Täufer*innen?

Während die Circumcelliones im Mittelalter eher in der Versenkung verschwunden waren, treten sie – unterstützt durch die erste gedruckte Veröffentlichung des Gesamtwerks von Augustinus im Jahr 1506 – im Zeitalter der Reformation wieder als rhetorisches Mittel in Erscheinung. Diesmal sind es vor allem Reformatoren wie Luther, Zwingli oder Melanchthon, die sich der historischen Erinnerungen bedienen, um daraus kirchenpolitisches Kapital zu schlagen. Ihr Vorwurf des „Donatismus“ richtet sich jedoch nicht gegen die katholische Papstkirche, sondern gegen ihre Konkurrent*innen auf dem Markt reformatorischer Lehren: die dissidenten Täufer*innen-Bewegungen.

Da sowohl diese Täufer*innen zur Zeit der Reformation als auch die „Donatist*innen“ in der Antike katholische Taufen (wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Motiven) nicht anerkannten, fällt eine Parallelisierung leicht. Und Augustins Frontalangriff auf die Donatist*innen, die er durch die Verbindung mit den Circumcelliones in Verruf bringen wollte, erlaubt es nun, die Täufer*innen-Bewegung in ähnlicher Weise in die Nähe der unterlegenen Agrarevolutionär*innen der Bauernkriege zu rücken. Dass die Täufer*innen beteuern, durch Gewalt-, Amts- und Eidesverzicht ein friedliches Zusammenleben jenseits aller politischen Intrigen anzustreben, hilft ihnen nicht.

Denn schließlich warf mit Augustinus bereits die Lehrautorität des Spätmittelalters den Donatist*innen vor, ihren Pazifismus nur vorzutäuschen (vgl. Brief 93 an Vincentius aus dem Jahr 408): Sie seien nur so lange zahm, wie sie wüssten, dass sie durch Gewalt nicht siegen könnten. Irgendwann aber werde es zweifelsohne zum Zusammenbruch der Ordnung kommen. Das kurze Intermezzo einer blutrünstigen „Gottesherrschaft“ durch fanatische Täufer*innen im westfälischen Münster 1534 lässt dann jedes Mitleid der Zeitgenoss*innen verschwinden. Dass die Täufer*innen ab 1528 per Reichsgesetz als Kapitalverbrecher*innen gesucht werden, hat ja scheinbar seinen guten Grund.

#04 Die Circumcelliones als heroische Klassenkämpfer*innen?

Ausnahmsweise positiv rezipiert werden die Circumcelliones in einer Dissertation aus der DDR. Theodora Büttner versucht 1959 einen Ausgleich zwischen sowjetischen und westlichen Forschungsansätzen zu finden: Während erste in den Circumcelliones im Zuge einer marxistischen Geschichtsphilosophie quasi ausschließlich antike Klassenkämpfer*innen in Bolschewiki-Manier vermuten, wird im Westen der Zusammenhang zwischen Sozialgeschichte und Kirchenpolitik häufig bestritten: Die Circumcelliones seien allenfalls „donatistische“ Terrorist*innen gewesen. Büttner vermutet hinter beiden Aussagen jeweils ideologische Vorannahmen.

Dass die Absicht der Historiker*innen ihre Ansichten bestimmt, trifft allerdings auch auf sie zu: Sie skizziert die Circumcelliones als mönchische Wanderasket*innen, die – bei Bedarf und spontan – in Agrarunruhen und Sklav*innen-Aufstände des römischen Nordafrikas eingegriffen hätten. Auch der Donatismus sei – neben seiner religiösen Opposition – eine, wenn auch nicht immer konsequente, Widerstandsbewegung gegen ein imperialistisches Sklavenhalter*innen-Regime gewesen.

Dass die Darstellung der Circumcelliones als mönchische Asket*innen erst viel später interessengeleitet vorgenommen wurde (siehe #02), nimmt Büttner dabei nicht wahr. Zu eindeutig lassen sich antike Held*innen gegen Staat und Kapital heraufbeschwören; man muss die Quellen nur richtig lesen. Selbst die Selbstmordlegenden Augustins und anderer werden nutzbar gemacht: Denn was ist wohl subversiver, als sich den unheilbar ungerechten Verhältnissen durch den Freitod zu entziehen?

Rekonstruktionen dekonstruieren?

Was in jedem der vergangenen vier Blitzlichter deutlich geworden ist, ist wohl, dass Geschichte stets eine interessengeleitete Konstruktion ist. Das heutige „Wissen“ um die Circumcellionen als historische Akteur*innen scheint sich uns beinahe nicht aufgrund, sondern trotz der Quellen und früheren Forschungsversuche zu präsentieren. Aber selbstverständlich dürfte dieser Einwand aus der Retrospektive auch die heutigen Nachzeichnungen des Vergangenen dekonstruieren – und seien sie auch noch so elaboriert wie diejenige von Brent Shaw.

Diese Erkenntnis macht zum einen demütig, zum anderen lässt sie (Kirchen-)Historiker*innen aber fraglos zurück: Wenn alles Konstruktion ist, kann (und muss?) auch alles dekonstruiert werden. Wie soll also überhaupt an einem Erkenntnisideal festgehalten werden? Es gibt darauf wohl keine vollends zufriedenstellende Antwort. Man kann sich aber zumindest darum bemühen, 1) die Narrationen in der Geschichtsschreibung anderer nachzuvollziehen, 2) die Komplexität historischer Phänomene nicht zu leugnen oder einzudampfen und 3) sich selbst und anderen gegenüber die erkenntnisleitenden Kriterien der eigenen Forschung transparent zu machen. Objektivität gibt es zwar auch dann noch nur als „reflektierte Subjektivität“. An diesem Rationalisierungsversuch gilt es jedoch auch jenseits eines bloßen akademischen Erkenntnisinteresses festzuhalten.

Was zur Objektivität verpflichtet

Schließlich geht es – bei den Circumcelliones, aber leider auch in der Geschichte insgesamt – allzu oft um eine Sieger*innen- und damit auch um eine Opfergeschichte mit unzähligen (häufig unschuldig) Getöteten. Verzichtet man also resigniert auf jeden Objektivitätsanspruch, entbehrt man auch in Debatten um die richtige Erinnerungskultur jeder Normativität. Man muss das Wort „Auschwitz“ nicht erwähnen, um plausibel zu machen, was hier gemeint ist. Tut man es dennoch, ist man angesichts der ins Millionenfache gesteigerten Relevanz noch ungleich beklommener als zuvor. Spätestens die Opfer verpflichten Historiker*innen „Objektivität“ zumindest als regulative Idee immer wieder anzustreben – selbst wenn sie wissen, dass sie damit auf jeden Fall scheitern werden. Nur so ist ein leidsensibler Blick auch auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen der Gegenwart aufrechtzuerhalten.

Es ist wohl niemals möglich zu zeigen, wie es wirklich gewesen ist. Aber wenn es nicht einmal mehr denkbar ist, sich an das zu erinnern, was wirklich verbrochen, was menschlich zerbrochen wurde, müssten wir auch vor dem Heute kapitulieren. Und zwar aus dem ganz banalen Grund, weil es morgen schon ein Gestern sein wird, das – wie die Circumcelliones – im Dunkel verschwimmt.

Hashtag der Woche: #postfiktional

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jonatan burger (er/ihn)

studierte von 2012-2018 Katholische Theologie in Freiburg und promoviert nun im Fach Christliche Sozialethik. Er ist Referent an der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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