Aus institutioneller Sicht ist das kirchliche Selbstbild recht klar und in zahlreichen Texten nachzulesen. Es scheint jedoch selten Platz für das zu geben, was die Gläubigen denken. Florian Elsishans schreibt darüber, wie eine zeitgemäßere Ekklesiologie aussehen könnte.
Probleme mit der Selbstwahrnehmung
Die römisch-katholische Kirche in Europa scheint gerade nicht so auf der Höhe; von kleineren Fettnapftritten bis riesigen Skandalen: in den Nachrichtenportalen und Zeitungen ist regelmäßig die Rede von einer neuen Peinlichkeit. Das ist auch ein Problem für die Gläubigen, die sich eigentlich gerne noch mit der Kirche identifizieren würden. Wie und wieso soll man angesichts aller Probleme noch an den jetzigen Strukturen der Kirche partizipieren?
Verstärkt wird dieser Eindruck durch das dogmatische Selbstverständnis der Kirche. Fragt man das Lehramt, ist nämlich klar: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (Lumen Gentium 1) Die lehramtlichen Texte zur Kirche mögen zwar sehr erbaulich klingen, einem verstandesgemäßen Realitätsanspruch aber beizeiten hinterherhinken. Zumindest ist klar: Kirche ist societas perfecta und ihre aktuelle institutionelle Struktur mit glitzernden Gewändern, viel (Weih-)Rauch, einem ganzen Bischofsvolk und einem Primas, der in Rom sitzt, ist genau das, was Jesus von Nazareth schon vor knapp zweitausend Jahren gewollt hat. Verändert hat sich die Kirche eigentlich auch nie – klar, historisches Denken wird überbewertet.
Kirche in der ambivalenten Moderne
In seinem Buch Kirche in der ambivalenten Moderne schreibt der Soziologie Franz-Xaver Kaufmann darüber, warum dies gerade nicht so ist. Er beschreibt die Kirche aus moderner Außenperspektive als eine Institution, die zwar eine der ersten Global Players war und die Modernisierung der Gesellschaft und den Liberalismus durch Widerspruch vorangetrieben hat, aber all dies, ohne dass sie das in ihrem Selbstverständnis eingeholt oder überhaupt gewollt hätte. Dass die Charakteristika der Moderne, nämlich der Verlust einer Zentralperspektive samt erneuertem Denken in multiperspektivischen Referenzsystemen und der kontinuierliche Wandel gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse, die kirchliche Lehre mit Zentralismus und Selbstverständnis als Hort ewiger Wahrheit herausfordert, leuchtet schnell ein.
Kaufmann attestiert der Kirche als konkretes Problem eine Strukturkrise, die nicht nur ihr, sondern dem ganzen Christentum zum Plausibilitätsproblem wird. Er gesteht zu, dass die Zentrierung der Entscheidungsstrukturen auf Rom, die noch immer stattfindet, durchaus zweckmäßig ist. Diese Zweckmäßigkeit stößt in einer weltweit agierenden Kirche wegen kultureller Eigenheiten aber an ihre Grenzen und ein solch weltkirchlicher Zentralismus muss sich den gleichen Kritikpunkten stellen wie ein staatlicher Zentralismus. Eine Kirche, die keine Partizipationsstrukturen bietet und die ihren Mitgliedern nicht die Möglichkeit einräumt, sich Recht zu verschaffen, wenn sie eben jenes für verletzt befinden, wird massive Probleme haben, sich in rechtsstaatlichen Gesellschaften zu legitimieren.
Insbesondere den römischen Zentralismus und die starke Eigendynamik der Kurie gegenüber dem Papst sieht Kaufmann als vielschichtige Probleme und fordert dazu auf, das Subsidiaritätsprinzip stärker in der Kirche zu etablieren: das Prinzip also, den basisnäheren Ebenen mehr Entscheidungskompetenz zu überlassen und den übergeordneten Ebenen eher eine Art Interventionsrecht einzuräumen. Konkret sieht er den Bedarf, den Bischofskonferenzen als intermediären Instanzen mehr Kompetenz zuzuschreiben. So könnten die Ortskirchen besser auf ihren jeweiligen Sprach- und Kulturraum eingehen.
Subsidiarität – die eierlegende Wollmilchsau?
Mehr Subsidiarität klingt erstmal nach einer duften Lösung, könnte sie doch eine zu starke Bürokratisierung der Weltkirche durch die päpstliche Kurie verhindern. Doch auch eine stärkere Befähigung der Bischofskonferenzen ist in Maßen kritisch zu sehen, birgt sie doch die Gefahr, diskriminierende Strukturen, die kulturell bedingt sein mögen, zu verfestigen. Gedacht sei bspw. an gesellschaftlich strukturelle Diskriminierung von Schwulen und Lesben in Teilen der Weltkirche, die durch die lehramtliche Position verstärkt wird. Ein Einmischen nordwesteuropäischer Katholik*innen in andere Kulturräume der Weltkirche ist nur bedingt sinnvoll, insbesondere da Gefahr besteht, kolonialistische Denkmuster zu reproduzieren. Wo es aber um Menschenrechte geht, ist bei aller Sensibilität darauf zu achten, dass diese nicht mit dem Scheinargument legitimer kultureller Variablität nivelliert werden. So sieht es auch der Jesuit Klaus Mertes und beschreibt ein solches Einbringen in die Weltkirche sogar als Pflicht. Eine zu starke Subsidiarität könnte diesem Vorhaben im Weg stehen.
Der angefragte Petrus
Sicherlich ist in der Kirche strukturell noch sehr viel Luft nach oben. Auf der Suche nach einem modernen kirchlichen Selbstverständnis lohnt es sich aber den Blick auf das Fundament der Kirche zu werfen. Das liegt laut Lehramt – in Berufung auf den Evangelist Matthäus – beim Papst.
In den jüngeren römischen Entwicklungen ist indes keine schlichte Fortsetzung der Festigung einer Machtstellung des Bischofs von Rom zu sehen. Schon der Rücktritt Benedikts XVI. markiert den Beginn einer Dekonstruktion des Papstamtes: Der absolutistische Anspruch eines Vicarius Christi, der durch Gottes Gnade bis an sein Lebensende regiert, wird auf zwei Weisen angefragt. Einerseits von Benedikt XVI., indem er erklärte, nicht mehr in der Lage zu sein, sein Amt auszuüben und somit die Bindung des Papstamtes an menschliche Einschränkungen betont. Andererseits von Franziskus, der zwar einen teilweise auch sehr autoritären Regierungsstil hat, dennoch eine gewisse Offenheit der Lehre herbeiführt und das Bischofskollegium um die richtige Auslegung bspw. seiner Enzykliken diskutieren lässt.
Tu es Petrus!
Diese Offenheit des Petrusamtes könnte Anstoß sein, den Schlüssel einer zukunftsfähigen Ekklesiologie im Individuum zu suchen. Dem modernen bis postmodernen Individuum wird es schlechterdings nicht gerecht, sich lehramtlichen Dogmen zu unterwerfen und an maroden Strukturen oder Lehrgebäuden abzuarbeiten. Die im kircheneigenen Denksystem evidente, formale Autorität des Lehramtes reicht nicht mehr aus, um Menschen von der kirchlichen Lehre zu überzeugen, vielmehr muss sich die kirchliche Lehre als inhaltlich relevant erweisen. Denn Menschen werden heute kaum einem System Macht über die eigene Lebensgestaltung geben, das seine Rechtfertigung in neuen Denk- und Lebensformen nicht plausibilisieren kann. Vielmehr sollte der christliche bzw. katholische Glaube in – für die jeweilige Person passenden – Kontexten gelebt und gerechtfertigt werden. So gibt es eine Chance, Plausibilität für andere zu gewinnen: wenn er in Deutungssystemen gedacht und gelebt wird, die der heutigen Zeit Genüge tun und nicht überkommenen Mustern verhaftet sind.
Dieser Appell möchte allerdings keinesfalls als Ausruf zum Relativismus verstanden werden. Kirche kann in dieser Vision dann eine Gemeinschaft von mündigen Christgläubigen sein, die ihren Glauben nicht selbst erfinden, sondern sich der Tradition bewusst sind und den Glauben vor sich selbst, der Kirche, in der sie stehen, und den Mitgläubigen verantworten können. In dieser Perspektive gelebt, hat der christliche Glaube die Chance auf eine Zukunft und die römisch-katholische Kirche vielleicht die Möglichkeit zur Veränderung. So kann das „Tu es Petrus“, die vermeintliche Konstitution der römischen Kirche aus dem Matthäusevangelium, als Aufruf an jede*n einzelne*n Katholik*in verstanden werden. Das wäre doch mal modern.
Hashtag der Woche: #wirsindpapst
(Beitragsbild: @oldskool2016)
Literatur
Kaufmann, Franz-Xaver: Kirche in der ambivalenten Moderne. Freiburg, 2012.