Maria, die Mutter Jesu, musste in der Geschichte des Christentums einige Interpretationen und Dogmatisierungen über sich ergehen lassen. Claudia Danzer zeigt die Vielfalt und die geschichtlichen Hintergründe der oft patriarchal anmutenden Marienbilder und erklärt, warum und wie sich eine feministische Theologie dieser Figur zuwenden sollte.
Eine gendersensible Theologie spürt normativ auftretende Rollenbilder in theologischen Kontexten auf und hinterfragt sie. Sie weist darauf hin, dass diese Bilder historisch geworden sind und dass in sie bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen eingetragen wurden. In den 2000 Jahren enormer Wirkungsgeschichte hat Maria in dieser Hinsicht einiges mitgemacht. Viele völlig verschiedene Marienbilder sind in den zahlreichen Konfessionen und Traditionen der Christenheit entstanden.
Welche Maria präsentiert uns das Neue Testament? Ist nicht mit der Rezeption eines biblisch fundierten Marienbildes immer auch die Rezeption eines Frauenbildes verbunden, das Produkt der patriarchalen Gesellschaft des antiken Mittelmeerraumes ist? Wurden dadurch, dass Maria in der katholisch-kirchlichen Verkündigung als normatives Vorbild für Weiblichkeit wirkte, nicht patriarchale Strukturen legitimiert und die Unterordnung der Frau durch die Betonung des Gehorsams Mariens religiös begründet? Doch zurück an den Anfang.
Eine „Frau aus Nazareth“ oder doch Jungfrau? Die Pluralität biblischer Marienbilder
In den Briefen des Paulus, also in den ältesten Textzeugnissen des Neuen Testaments, ist die Mutter Jesu schlicht „eine Frau“, ihren Namen nennt Paulus nicht. Mehr Informationen benötigt er nicht, schließlich steht im Zentrum seiner Verkündigung allein der Kyrios Jesus. Er ist Retter aller Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht (Gal 3,28). Markus kennt den Namen der Mutter Jesu: Maria. Er erzählt sonst nicht viel von ihr. Das Marienbild, das Matthäus und vor allem Lukas zeichnen, ist da von größerem Detailreichtum. Wir kennen die Geschichten der Erscheinung des Erzengels Gabriel, des Besuches bei Elisabeth und der Geburt Jesu. Nicht zuletzt ist Maria in diesen — und nur in diesen — Darstellungen Jungfrau. Bei Johannes wird die Mutter Jesu wiederum nicht namentlich genannt, dort ist sie Symbolfigur für das neue Israel.
Die neutestamentlichen Schriftzeugnisse präsentieren uns also eine Vielzahl von Marienbildern. Doch fällt auf, dass Maria hier noch nicht die immerwährende Jungfrau ist, deren Reinheit, sexuelle Enthaltsamkeit und Askese betont wird. Wo ist dieses Bild entstanden? Diese Frage führt uns in das antike Alexandria, dem vermutlichen Entstehungsort des apokryphen Evangeliums nach Jakobus (ProtEv), welches wirkungsgeschichtlich dieses Marienbild maßgeblich geprägt hat.
Immerwährende Jungfrau, reine und enthaltsame Asketin: Marienbilder in apokrypher Überlieferung
Im antiken Alexandria des 2. Jhd. polemisiert der Philosoph Celsos gegenüber jenen Christ*innen, die an eine Jungfrauengeburt glauben. Das ProtEv liest sich wie eine Apologie gegen diesen Vorwurf. In einer kunstvollen Komposition harmonisiert es die lukanische und matthäische Erzählung, klärt die Herkunft Mariens, ihre Geburt und ihre Kindheit und will vor allem ihre immerwährende Jungfräulichkeit vor, bei und nach der Geburt Jesu durch detailreiche Prüfungen beweisen. Marias Leben wird darüberhinaus als das einer stillen, demütigen und im Hintergrund lebenden Tempeljungfrau geschildert, die fernab von irdischen Verführungen nichts mitbekommen soll. Erzählerisch wird alles daran gesetzt, dass Maria gar nicht die Möglichkeit hatte, in ihrem Leben je einen Mann — wie es in biblischer Sprache heißt — „erkannt“ zu haben. Stets wiederholt sie: „Rein bin ich und keinen Mann habe ich erkannt.“
Dieses Marienbild, das sich von den neutestamentlichen Vorstellungen entfernt hat (in Mk 6,3 und Mt 13,55 werden die Geschwister Jesu namentlich genannt), hatte zur Folge, dass mit Maria als die sich dem Willen Gottes Unterordnende ein Ideal von Frau-Sein konstruiert wurde, welches wohl patriarchale Gesellschaftssysteme begünstigte. Aus dem selbstbewussten „Ja“ Mariens, ohne deren Einwilligung es nicht zur Menschwerdung Gottes gekommen wäre, wurde ein unterordnendes „Dein Wille geschehe“.
Im ProtEv wird Maria so zur immerwährenden Jungfrau, zur reinen und enthaltsamen Asketin — ein Bild, das breite Rezeption bei den Kirchenvätern fand, die dazu noch die Gegenüberstellung von Eva und Maria einführten. Eva als die sexuelle Verführerin und Maria als die sexuell Enthaltsame werden einander gegenübergestellt. Feministische Theolog*innen kritisieren, dass diese Gegenüberstellung zur einer Entfremdung der Frauen von ihrem eigenen Körper und ihrer Sexualität geführt hat. Das Marienbild im Paradox von Jungfrau (biologistisch verstanden) und Mutter habe „eine Kluft zwischen der Weiblichkeit Marias und der aller anderen Frauen aufgerissen“1.
Maria als ideale Frau: römisch-katholische Vorstellungen von Maria
Maria als ideale Frau hat bis heute einen großen Einfluss auf das Frauenbild des römisch-katholischen Lehramtes, was sich im Schreiben „Über die Zusammenarbeit von Mann und Frau“ der Glaubenskongregation an die Bischöfe von 2004 widerspiegelt. Männer schreiben hier an Männer über das Verhältnis von Frauen und Männern. Anlass ist — wer hätte es gedacht — der Genderismus. Maria ist der Prototyp der Frau, den v. a. „die Haltung des Hörens, des Aufnehmens, der Demut, der Treue und des Lobpreises“ auszeichnet. Ebenfalls wird das Motiv von Maria als „neue Eva“ aufgenommen. Frau-Sein heißt in diesem Schreiben Mutter oder Jungfrau sein. Und Maria als ideale Frau verkörpert beides. Warum überhaupt Maria für Christinnen normatives Leitbild sein soll und nicht Jesus, bleibt völlig offen. Genauso suchen muss man ein Verständnis für das historische Gewachsen-Sein von Rollenbildern und eine Sensibilität für Geschlechtervielfalt.
Warum sollte angesichts dieser skizzierten Wirkungsgeschichte, in denen das Marienbild so eng mit patriarchalen Denkmustern von Unterordnung und Weiblichkeit verwoben ist, noch von Maria sprechen? Eine Kritik an diesen bestimmten Marienbildern muss nicht zur Folge haben, die gesamte Mariologie abzulehnen. Feministische Theologien bieten eine Vielzahl an Ansätzen zu einer anderen Rede von Maria.
Feministische Alternativen: Maria als geheime Göttin des Christentums? Als Symbol der Befreiung? Als Freundin im Glauben?
Christa Mullack vertritt die These, dass Maria die heimliche Göttin des Christentums sei — in der Tradition der mater magna, wie sie seit Urzeiten in Religionen zu finden ist. Berechtigte Kritik aus den eigenen Reihen der feministischen Theologie bringt an, dass sehr wohl von Gott auch in weiblichen biblischen Bildern gesprochen werden kann, einer Verehrung Mariens als Göttin hingegen nicht nur jegliche biblische Grundlage fehle, sondern mit der Gegenüberstellung von Gott und Göttin wieder Geschlechter-bipolar gedacht wird.
Maria als Symbol der Befreiung zu sehen ist der Vorschlag einiger feministischer Theolog*innen wie Catharina J. M. Halkes. Grundannahme ist, dass Maria als starkes weibliches Symbol frauenbefreiend wirken könnte, dies aber bisher nicht konnte, weil sie in männlich einseitiger Weise verkündet worden sei.2 Diese Entwürfe einer Mariologie erinnern an das, was neutestamentlich überliefert ist: In der lukanischen Erzählung ist Maria die Frau, die selbstbewusst in das Vorhaben Gottes einwilligt und anfängt ein revolutionäres Lied zu singen, welches nicht nur — wie in der verkürzten römischen Darstellung — aus dem Lobpreis Gottes besteht, sondern damit beginnt und eine Zeit ankündigt, in welcher denen, die Unrecht und Unterdrückung ausgesetzt sind, Recht und Gerechtigkeit zuteilwerden wird (vgl. das Magnificat in Lk 1,46-55). Revolutionäre Worte im Mund einer jungen Frau zu einer Zeit, die patriarchal und hierarchisch geprägt war.
Eine weitere Variante, die in der evangelischen Theologie weit verbreitet ist, versteht Maria als Freundin im Glauben. Gerade mit ihren Zweifeln, mit den Höhen und Tiefen ihrer Nachfolge kann sie für alle Christ*innen eben eine Freundin im Glauben sein — im Glauben an den, der Mensch wurde, um für alle unabhängig von ihrem Geschlecht Freundin zu sein. Der entscheidende Punkt ist, dass dieser Entwurf endgültig damit bricht, dass ein wie auch immer bestimmtes Marienbild normativ für das Frauenbild gelten soll. Die Wirklichkeit der Geschlechtervielfalt wird berücksichtigt und der Weg ist frei für eine gendersensible Mariologie.
Hashtag der Woche: #marygonewild
(Beitragsbild: @relentlessvegas)
1 Catharina J. M Halkes zitiert nach: Radlbeck-Ossmann, Regina: Maria in der Feministischen Theologie, in: Beinert, Wolfgang/Petri, Heinrich: Handbuch der Marienkunde, Regensburg 1996, 435-464, 439.
2 Radlbeck-Ossmann, Regina: Maria in der Feministischen Theologie, in: Beinert, Wolfgang/Petri, Heinrich: Handbuch der Marienkunde, Regensburg 1996, 435-464, 445.
Literatur:
Becker, Jürgen: Maria. Mutter Jesu und erwählte Jungfrau (Biblische Gestalten 4), Leipzig 2001, 233-303.
Halkes, Catharina J. M.: Gott hat nicht nur starke Söhne, Grundzüge einer feministischen Theologie, Gütersloh 1987.
Klauck, Hans-Josef: Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 2002, 88-105.
Mulack, Christa: Maria. Die geheime Göttin, Stuttgart 1985, 109-119.
Radlbeck-Ossmann, Regina: Maria in der Feministischen Theologie, in: Beinert, Wolfgang/Petri, Heinrich: Handbuch der Marienkunde, Regensburg 1996, 435-464.
Schneider, Gerhard (Hg.): Evangelia infantiae Apocrypha (Fontes Christiani 18), Freiburg 1995.
Schreiner, Klaus: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, Wien 1994, 178-204.
Toepel, Alexander: Das Protevangelium des Jakobus. Ein Beitrag zur neueren Diskussion um Herkunft, Auslegung und theologische Einordnung (Frankfurter Theologische Studien Band 71), Münster 2014.
Eine kurze, überzeugende und hilfreiche, überfällige Skizze zum Thema „Maria“ in der römischen Kirche, deren zölibatäre und geweihte Männer noch immer „ihre“ Maria oft missbrauchen. – Vielen Dank für den erhellenden Beitrag.