„Mit Ängsten geht man nicht demonstrieren, sondern zum Therapeuten.“ Was mit Blick auf PEGIDA so witzig und einfach klang, entpuppt sich bei näherer Betrachtung doch als komplizierter. Jonatan Burger blickt auf das Für und Wider von Emotionen in der Politik — und fragt, was dies mit politischer Philosophie zu tun haben könnte.

Spätestens mit den steigenden Migrationszahlen des Sommers 2015 konnte man in den vergangenen Jahren eine Emotionalisierung in der deutschen Politik beobachten. Sprachbilder wie „Willkommenskultur“ und „Flüchtlingswelle“ tragen vielfach unbewusst dazu bei, bestimmte Emotionen hervorzurufen. Linke Slogans wie „No border, no nation“ stehen rechten Parolen wie „Deutschland, Deutschland über alles“ gegenüber. Das — was das (Eigen-)Marketing angeht, zugegebenermaßen effektive — „Wo wart ihr Silvester?“ 1, mit dem Vertreter*innen der Identitären Bewegung die Frankfurter Buchmesse beschallten, entspricht dem „Wo wart ihr 1992?“ der linken Szene. Verve und heiliger Zorn stehen jeweils im Vordergrund: Die Übergriffen in Köln an Silvester 2015/16 und der Brandanschlag in Rostock-Lichtenhagen 1992 dienen eher als Hintergrundfolie der Agitation.

Das linke wie das rechte Lager scheinen sich damit zumindest auf einer formalen Ebene unfreiwillig zu ähneln. Ein dogmatischer Wahrheitsanspruch, ein hohes Maß an selbstbewusster Expressivität, die pathetische Appellation an höhere Güter, die Versuche einer Sinnstiftung durch die Identifikation mit kollektiven Zielen, ein interessengeleiteter Blick auf geschichtliche Ereignisse: All das teilen die konträren Strömungen. Mich erinnert das manchmal beinahe schon an religiöse Phänomene.

Was Theolog*innen zur Debatte beitragen können

Vielleicht ist das vorschnell. Dieser Vergleich eröffnet aber vielleicht auch einen Ausweg aus der zunehmenden Polarisierung und wechselseitigen Entfremdung in unserer Gesellschaft. Theolog*innen haben hier einiges Fachwissen anzubieten: Denn mit zahlreichen vergleichbar entschieden geführten Debatten wie derzeit zwischen Links und Rechts müssen sie sich quasi von Haus aus beschäftigen. Ob Abtreibung, Sterbehilfe oder Abschiebung aus dem Kirchenasyl: Jedes dieser Themen ist hochgradig umstritten.

Und in allen Fällen geht es letztlich auch immer um die Berechtigung religiöser Argumente im politischen Diskurs überhaupt. Die immer wieder neu auftretenden Spannungen zwischen religiösen und säkularen Akteur*innen haben zu einer Grundsatzdebatte in der Politischen Philosophie geführt. Meine These wäre, dass man aus dieser Kontroverse auch etwas für die politischen Auseinandersetzungen jenseits genuin religiöser Fragestellungen lernen kann. Um dies zu begründen, führt an einem — natürlich nur vereinfachten und skizzenhaften — Überblick über die Positionen von John Rawls, Jürgen Habermas und ihrer Kritiker*innen jedoch kein Weg vorbei.

John Rawls oder: „Was ich nicht seh’, tut mir nicht weh.“

Ausgangspunkt ist dabei die Einsicht, dass es auch in pluralistischen Gesellschaften in Wertkonflikten und bei fundamentalen Meinungsunterschieden zwischen religiösen Bürger*innen (aus teils unterschiedlichen religiösen Traditionen) und säkularen Bürger*innen — in irgendeiner (noch zu klärenden) Weise — vorstellbar sein muss, zu lösungsorientierten Verständigungen zu gelangen. John Rawls als exemplarischer Vertreter des Politischen Liberalismus versucht diese zu ermöglichen, indem er für alle „umfassenden Lehren“ (comprehensive doctrines) eine Beschränkungsforderung aufstellt. Grundlage der Einigungsbemühungen solle die von allen Menschen geteilte Vernunft mit ihren basalen Werten der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sein. Nur auf diese Weise sei es denkbar, dass eine potentielle Kompromisslösung für alle Beteiligten rational einsichtig sei und keine Gruppe übergangen werde. Alle Hintergrundannahmen bspw. christlicher, islamischer, marxistischer oder utilitaristischer Provenienz sollten privatisiert werden — bedingten sie das Endergebnis der demokratischen Abstimmung, drohe die Gesellschaft ins Autoritäre abzugleiten.

Allerdings ruft diese gegenüber religiösen Begründungsstrategien recht exklusivistische Position entschiedene Kritik hervor: Sie nötige religiöse Diskursteilnehmer*innen, Unmögliches zu leisten und ihre politischen Überzeugungen in einen legitimen säkularen und einen unter Verdacht stehenden religiösen Bruchteil aufzuspalten. Zudem würden liberale Lösungsansätze vorschnell bevorzugt und weniger Gebildete, welche die kognitiv voraussetzungsreichen Diskursbedingungen nicht erfüllen könnten, ausgeschlossen. Zuletzt sei die zugrundeliegende Annahme, dass sich religiöse Überzeugungen ohnehin auf einem absteigenden Ast befänden (a.k.a. „Säkularisierungstheorem“) angesichts der neuen Vitalität der Religionen im 21. Jahrhundert äußerst fraglich geworden.

Notwendige Korrekturen von Jürgen Habermas

Jürgen Habermas weicht die Position von John Rawls deshalb auf: Zwar teilt er mit dem amerikanischen Philosophen das Anliegen, mit der Gesamtheit der Bürger*innen alle späteren Adressat*innen des Gesetzes als Autor*innen an dessen Entstehungsprozess zu beteiligen. Die Gesetzesfindung soll nicht nur durch eine bloße Abstimmung zugunsten einer knappen Mehrheit beendet werden, sondern als wirklicher diskursiver Deliberationsprozess um der besten Lösung willen erfolgen. Deshalb soll das Ergebnis dieser Anstrengungen dann auch allgemein — sprich nur mit der einen gemeinsamen menschlichen Vernunft — akzeptabel sein. Zugleich reagiert Habermas mit seinem Konzept der Postsäkularität aber auf die oben erwähnten Einwände: Ist eine säkulare Argumentation nicht möglich, kann in Ausnahmefällen eine genuin religiöse Begründungsstrategie verfolgt werden. Ihr notwendiges Ende findet die Artikulation religiöser Argumente allerdings an einer institutionellen Schwelle: Parlamente, Gerichte, Ministerien sind — um der Allgemeingültigkeit und Neutralität staatlicher Gewalt willen — Räumen rein säkularer Entscheidungsfindung.

Auch Habermas macht es sich zu einfach

Habermas schätzt die Religionen dafür, mit Blick auf moderne Entgleisungen wie ein übermäßiges Primat der Ökonomie, bioethische Selbstvergöttlichungen oder szientistische Engführungen des Menschen auf ein bloße Marionette seiner Neuronen, kritische Einwände bereitzuhalten. Dieses inhaltliche Potenzial soll der säkularen Vernunft im Zuge von „rettenden Übersetzungen“ zu Gute kommen. Aber dennoch hält Habermas Religion letztlich für undurchschaubar, für „opak“. Die Religion ist für ihn immer noch das Andere der Vernunft, so schwierig zu fassen wie sonst nur die ästhetische Anschauung. Und Schönheit liegt bekanntlich ausschließlich im Auge der Betrachter*innen.

An dieser Stelle ist der Frankfurter Philosoph deshalb zu kritisieren: Nur weil religiöse Überzeugungen nicht allgemeine Akzeptabilität genießen, heißt dies nicht, dass ihre Sinngehalte nicht zumindest allgemein zugänglich sein können. Ich muss den Glauben an die Inkarnation des präexistenten Gottessohnes in Jesus von Nazareth nicht teilen, ich kann ihn sogar für reine Spekulation oder eine Verletzung der Transzendenz Gottes halten. Eines kann ich aber nicht: ihn vor allen Bemühungen um ein verstehendes Nachvollziehen einfach so abtun. Deshalb kommen der Religion — gegen alle Einwände von Rawls, Habermas und anderen — auch im politischen Diskurs wichtige Funktionen jenseits einer Letztbegründung von Entscheidungen zu: Sie sensibilisiert für Vergessenes, motiviert als ein weiterer lebensbestimmender Faktor zusätzlich zur Forcierung säkular begründeter politischer Forderungen, bindet Randgruppen in den Diskurs ein und beugt so Fundamentalisierungen vor. Wer sie also einfach ins Private verschiebt oder letztlich doch immer als irrational abtut, unterschätzt ihre Potentiale.

Eine neue Brille: Emotionalität vs. Rationalität

Warum aber dieser — doch recht lang geratene — Exkurs in die Politische Philosophie? Ich denke, es wäre zumindest ein charmanter Gedanke, den vorherigen Abschnitt noch einmal einer Relecture zu unterziehen. Nur soll diesmal das Wort „säkular“ durch „rational“ und das Wort „religiös“ durch „emotional“ ersetzt werden – ohne natürlich diese Begriffspaare jeweils gleichzusetzen! Das Ergebnis ist ein Plädoyer für eine vorsichtige Aufwertung emotionaler Argumentationslinien und Einflüsse auf politische Entscheidungen. Jenes ist sich der Tatsache, dass zu viel Emotion Gefahren birgt, bewusst. Es hält auch entschieden daran fest, dass nur aufgrund von Emotionen keineswegs bereits politische Gestaltungsmacht verliehen werden darf. Alles andere wäre höchst verhängnisvoll und würde die ohnehin schon starke gesellschaftliche Polarisierung nur noch verstärken.

Der Sinn von Emotionen in der Politik

Und dennoch: Empathie und Ängste, Hoffnungen und Abneigung sind Ressourcen für politische Partizipation, die nicht einfach paternalistisch nivelliert oder zynisch abgetan werden sollten. Vielmehr sind sie als ein Ausgangspunkt von politischem Handeln zu verstehen. Dies entbindet uns keinesfalls davon, die eigenen wie die fremden Emotionen einer (selbst-)kritischen Prüfung zu unterziehen. Ohne diese wäre ein Zusammenleben höchst unterschiedlicher Individuen mit mannigfaltigen Emotionshaushalten ja auch kaum möglich. Eine verständigungsorientierte Politik ist aber nur dann denkbar, wenn das Gegenüber umfänglich, d. h. auch in seiner Emotionalität, ernst genommen wird. In einer Demokratie schulden wir das einander. Oder anders ausgedrückt: „Mit Ängsten geht man vielleicht auch einmal demonstrieren. Vor allem aber gestaltet man danach unsere Gesellschaft — und zwar im Dialog mit anderen und sich selbst!“

Hashtag der Woche: #emotionalrationalsozial


1. Leider fand sich zu diesem Ereignis kein Video aus einer ausreichend seriösen Quelle. Deswegen verweist der Link auf das Neo Magazin Royale, aber nicht wegen, sondern trotz des satirischen Kontextes.

Literaturhinweise:

  • Breul, Martin: Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung. Paderborn: Schöningh, 2015.
  • Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt: Suhrkamp, 2009 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1918).
    • derselbe: Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? S. 106-118.
    • derselbe: Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ religiöser und säkularer Bürger. S. 119-154.
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jonatan burger (er/ihn)

studierte von 2012-2018 Katholische Theologie in Freiburg und promoviert nun im Fach Christliche Sozialethik. Er ist Referent an der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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