Die Christmette zeigt im Vergleich zur „normalen“ Sonntagsmesse wenig liturgische Besonderheiten. Trotzdem ist ihr Stellenwert im kirchlichen Leben kaum vergleichbar. Warum das so ist und worauf es bei der Feier der Christmette ankommt, erklärt (mit einem kleinen Negativbeispiel) apl. Prof. Dr. Stephan Wahle.

Heiligabend um viertel vor Sechs. Die Glocken von St. Pankratius läuten feierlich zur Christmette. Es ist ein lauwarmer, verregneter Tag; von Winteranfang keine Spur. Die Menschen fahren mit ihren Autos vor und laufen geschwind in die fast voll besetzte Kirche. Über Lautsprecher ertönt leise weihnachtliche Instrumentalmusik, in der Kirche herrscht dennoch ein lautes Gemurmel. Der moderne Kirchenraum ist hell erleuchtet, nur ein schönes Arrangement mit Weihnachtssternen und Wurzeln ziert den puristisch gestalteten Altarraum. Einen Weihnachtsbaum mit Lichterkette und Strohsternen gibt es nicht; der Pfarrgemeinderat hatte sich dazu entschlossen, einen Gegenakzent zu der immer größer werdenden Lichterflut in der Innenstadt zu setzen. Vor dem Altar kann man statt einer Krippe schemenhaft drei Figuren aus Ton sehen, Genaueres ist nicht zu erkennen.

(K)eine ganz normale Messe

Punkt 18 Uhr mit Glockenschlag beginnt der Gottesdienst. Eine große Schar an Ministrant*innen zieht in die Kirche ein, Kreuz und Weihrauch vorweg, am Schluss der Priester. Die Organistin intoniert ein festliches Präludium, die Gemeinde singt etwas verhalten Es kommt ein Schiff geladen. Die Eucharistiefeier nimmt ihren üblichen Verlauf. Der Priester hat dazu das Formular von der Messfeier Am Heiligen Abend ausgewählt, was erst bei den Schriftlesungen auffallen wird: Statt des bekannten Jesaja-Textes „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht“ (Jes 9,1) trägt die Lektorin einen eher unbekannten Abschnitt aus demselben Prophetenbuch vor (vgl. Jes 62,1-5). Ein Kantor rezitiert den Antwortpsalm, die Gemeinde respondiert leise mit dem Kehrvers.

Auch das Evangelium ist ungewohnt: Statt der berühmten lukanischen Weihnachtsgeschichte wird die Geburtsankündigung nach Matthäus gelesen (in der Kurzfassung natürlich, vgl. Mt 1,18-25). Auf Halleluja und Prozession mit dem Evangeliar wird verzichtet. In seiner Predigt erschließt der Priester ausgiebig die Geburt Jesu als Werk der Erlösung des Menschen von den Sünden. Er bedenkt unter Rückgriff auf das Evangelium die Rolle Josefs im Heilsgeschehen, seine menschliche Unsicherheit und sein gläubiges Vertrauen auf Gott. Kurz verweist der Priester auf eine der drei Tonfiguren vor dem Altar: Sie soll Josef als nachdenklich-glaubende Person im Hintergrund der dargestellten Szenerie zeigen, während der neugeborene Jesus im Schoße seiner Mutter Maria liegt. Im Folgenden wechseln sich verschiedene Texte und Gesangseinlagen wie üblich ab: auf das gesungene Credo die gesprochenen Fürbitten, ein Lied zur Gabenbereitung durch den Kirchenchor, das gesprochene Gaben- und Hochgebet, unterbrochen durch das Schubert-Heilig, Vaterunser, Friedensritus, Agnus Dei, Kommunion mit Orgelimprovisation und Chorgesang, anschließend das Schlussgebet und der Segen.

Alles so wie immer, will man meinen, wäre die Kirche nicht so voll wie sonst kaum im Jahr. Der Priester wünscht schließlich allen Frohe Weihnachten und unter festlichem Orgelspiel ziehen alle Dienste auf kurzem Weg in die Sakristei. Der Gottesdienst ist nach einer knappen Stunde vorüber, die Menschen steigen wieder in ihre Autos oder gehen schnellen Schritts durch den Regen nach Hause. Ein wenig Unmut ist zu hören. Eine ältere Frau bemerkt: „Das war doch keine richtige Christmette!“

Alles hat seine Richtigkeit

War es das nicht? Aus liturgierechtlicher Sicht haben Priester, Lektorin, Kantor und Organistin, Chor, ja selbst die Ministrant*innen nichts falsch gemacht. Alle biblischen, liturgischen und musikalischen Texte folgten den amtlichen Büchern und Vorgaben. Auch die Predigt konnte im Einklang mit den Empfehlungen des Homiletischen Direktoriums gesehen werden. Zudem zeugten die Fürbitten von einem Gespür für zeitgerechtes Beten in den Anliegen der Kirche in der Welt. Auch die Liedauswahl war formal dem Festtag entsprechend – Stille Nacht, heilige Nacht fehlte zwar, ist aber auch nirgends vorgeschrieben. Auf der Ebene der präskriptiven Quellen und Rubriken war nichts zu beanstanden – kein Wildwuchs, keine Eigenmächtigkeiten, keine Häresien. Warum also der ambivalente Eindruck dieser Christmette?

In jedem liturgiewissenschaftlichen Handbuch wird gelehrt: Liturgie ist mehr als ein reines Wortgeschehen, Liturgie erschöpft sich nicht im ordnungsgemäßen Vortragen von Texten und dem aufmerksamen Zuhören, Mitbeten und Mitsingen. Diesem Missverständnis waren anscheinend die Verantwortlichen von St. Pankratius auf den Leim gegangen. Während auf formaler Ebene korrekt gehandelt wurde, blieben bei den Vorbereitungen des Gottesdienstes die hohe Bedeutung der Performance, der Wirkmächtigkeit des sinnlichen Erlebens und des rituellen Handelns unberücksichtigt. Gerade der Weihnachtsgottesdienst zeichnet sich aber in seiner geschichtlichen, volkstümlichen Entwicklung durch einen einzigartigen, erlebnisstarken Charakter aus, der nicht aus verbalen Akten resultiert – von der literarischen und poetischen Qualität der lukanischen Geburtserzählung einmal abgesehen (deshalb darf dieses Evangelium nicht fehlen!).

Auch hängt das Spezifische des Weihnachtsgottesdienstes nicht unbedingt an besonderen liturgischen Riten, die vergleichbar zu den symbolisch reich gestalteten Feiern der Heiligen Woche die Feier der Christmette von einer „normalen“ Sonntagsmesse abheben würden. Im Gegensatz zur Liturgie der Osternacht muss man vielmehr von einer dramaturgischen und ästhetischen Kargheit sprechen, wären da nicht die im Wiegentakt gestimmten Weihnachtslieder, die heimatlich inszenierte Krippe, der liebevoll geschmückte Christbaum mit seinen Lichtern sowie der Geruch von Kerzenwachs und Tannenduft. Alle diese alten und neuen Elemente weihnachtlichen Brauchtums sind es, die faktisch das Erleben der Christmette wesentlich prägen und die Atmosphäre des Kirchenraums weihnachtlich stimmen – oder eben nicht, sollten sie fehlen. Besonders der Umgang mit Licht, das Versammeln in einer (halb-)dunklen Kirche und der allmähliche Übergang in eine von Kerzen oder gedimmten Lampen illuminierten Kirche erweist sich als Schlüssel zum Erleben einer sinnlich und sinndeutend aufgeladenen Gottesdienstatmosphäre.

Spürbare Sinngebung

Die luzernare und volkstümliche Profilierung der Christmette hat folglich eine doppelte Funktion: Einerseits verdeutlicht sie die weihnachtliche Botschaft von der „hochheiligen Nacht“, in der „uns“, jedem*r einzelnen Gläubigen im Hier und Jetzt der versammelten Gemeinde, „das wahre Licht aufgestrahlt“ ist (Kollektengebet der Christmette). Andererseits verwandelt sie den Kirchenraum in einen Sehnsuchtsraum erfüllter Erwartung, für die auch die vielen Menschen in ihrem unterschiedlichen Glauben und Sehnen sensibel sind. So gliedert sich die im gedimmten Licht und im Angesicht von Christbaum und Krippe gefeierte Christmette in die gedämpfte Atmosphäre der Öffentlichkeit ein und verleiht dieser durch das Singen und Sagen (Martin Luther) der Frohen Botschaft eine im besten Sinne emotional spürbare Sinngebung.

Hashtag der Woche: #christmassy


(Beitragsbild: @aaronburden)

Literaturhinweise:

Stephan Wahle, Das Fest der Menschwerdung. Weihnachten in Glaube, Kultur und Gesellschaft. Freiburg 2015.

Stephan Wahle, Zwischen Sehnsucht und Kommerz, in: Gottesdienst 51 (2017), H. 23/24, 185-188.

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apl. prof. dr. stephan wahle

ist apl. Professor am Arbeitsbereich Dogmatik und Liturgiewissenschaft der Universität Freiburg.

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