Einfach nur Apfel, Nuss und Mandelkern in besinnlichen Stunden im Kerzenlicht? Moritz Findeisen versteht den Advent als Ausdruck einer prekären, aber begründeten Hoffnung – und zeigt mit J.S. Bach, wie man sich angesichts der Fülle adventlicher Besinnungen einmal anders Gedanken machen kann.
Das Angebot an Impulsen und Meditationen zur Adventszeit unterschiedlichster Güte ist dieser Tage, wie alle Jahre wieder, kaum zu überschauen: vom „Engel für jeden Tag“ über die Geschichte von der „Kerze, die nicht brennen wollte“ bis zu hilfreichen Besinnungstipps wohlmeinender Bischöfe. Dagegen hält es der Autor dieser Zeilen lieber mit Bach, der vielen als der Theologe unter den Komponisten gilt – nicht nur wegen seines feinen Gespürs in der Auswahl der geistlichen Dichtungen, die er seinen Werken zugrunde legte, sondern vor allem wegen der großen Kunstfertigkeit, mit der er die darin angelegten Gefühle und Spannungen musikalisch umzusetzen wusste.
Bachs Kantate „Schwingt freudig euch empor“ (BWV 36), die am ersten Adventsonntag 1731 uraufgeführt wurde, bringt in ihrem Wechsel aus feierlich triumphierendem Chorgesang und intim verhaltenen Solo-Arien auf hervorragende Weise die spannungsvolle Grundhaltung des Advents zwischen Vorfreude und harrendem Erwarten zum Ausdruck. Dem in aufsteigenden Motiven sich immer weiter steigernde Jubel über das bevorstehende Weihnachtsfest –
„Schwingt freudig euch empor / zu den erhab´nen Sternen…“
– steht die gebotene Zurückhaltung scharf gegenüber:
„Doch haltet ein! / Der Schall darf sich nicht weit entfernen…“
Noch steht die Erfüllung aus, das Kommen des „Herrn der Herrlichkeit“, noch müssen die Gläubigen warten und ihre Stimmen bändigen.
Vorfreude ist die schönste Freude?
Stellt sich allein die Frage, worauf wir als adventlich gestimmte Menschen eigentlich warten, was die ersehnte „Ankunft“ mit sich bringen sollte, von dem wir nicht schon wüssten? Haben wir mit der apokalyptischen Erwartung des Weltenendes, das die biblische Sprachwelt prägt, doch einigermaßen konsequent abgeschlossen. So wirkt die liturgische Inszenierung des Advents rein äußerlich betrachtet recht grotesk: Bezüglich der Weihnachtsgeschichte dürften wir hinlänglich im Bilde sein – Maria und Josef, die Hirten mit den Schafen… und eben das Jesuskind, von dem die Christenheit bekennt, in ihm sei Gott Mensch geworden, um die irdische mit der himmlischen Welt zu versöhnen.
Und doch sparen wir uns die idyllische Krippenszenerie bis zum 25. Dezember sorgsam auf, soweit im Glühwein geschwängerten Einkaufs- und Besinnungstrubel möglich, und ärgern uns unter Umständen, wenn die geliebten Weihnachtsmelodien schon Ende November von den Blockflöten-Grüppchen in der Fußgängerzone dargeboten werden. – Und doch gönnt sich die Kirche eine vierwöchige Vorbereitungszeit (durch die diesjährige Konstellation der Wochentage empfindlich verkürzt) und übt sich mit allerlei Gebräuchen in der Erwartung von etwas Großem.
Grotesk muss dieses Gebaren indes tatsächlich wirken – und keiner von uns ist wohl jederzeit vor dieser Irrung gefeit –, so man davon ausginge, die Feier des Weihnachtsfestes brächte etwas Neues im Sinne eines überwältigenden Erlebnisses oder einer Überraschung (von dem einen oder anderen Geschenk vielleicht abgesehen). Dementsprechend wäre die Adventszeit aus säkularer Perspektive bestenfalls noch mit der psychologischen Plattitüde zu erklären, dass Vorfreude die schönste Freude sei und geduldiges Ausharren die Bedeutung eines Ereignisses noch steigere.
Mehr als fromme Floskeln, Nuss und Mandelkern
Demgegenüber hatten Bach und sein anonymer Textdichter ein weit tieferes Verständnis, wenn sie die sehnsüchtige Stimmung der Vorweihnachtszeit im schlichten Bild einer Liebesbeziehung fassen:
„Die Liebe zieht mit sanften Schritten / sein Treugeliebtes allgemach. / Gleichwie es eine Braut entzücket, / wenn sie den Bräutigam erblicket, / so folgt ein Herz auch Jesu nach.“
Zwar wissen wir in gläubigem Vertrauen auf seinen Programmnamen Immanuel, dass Gott zu uns kommen und bei uns sein will, doch kann er dies nicht ohne uns – er zieht uns liebevoll mit „sanften Schritten“, aber um wirklich bei uns ankommen zu können, braucht es unser aktives Zutun, unser folgsames Herz, das sich oft so schwer tut zu lieben. Es kostet Anstrengung und geschieht nicht von allein, wir müssen täglich die eigene Trägheit überwinden und die Floskeln hinter uns lassen, mit denen im pastoralen Nahkampf wie in den theologischen Lehrstuben oft so leichtfertig hantiert wird.
„Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren,“
mahnte Angelus Silesius und macht damit ebenso wie der Eingangschor von Bachs Adventskantate deutlich, dass unser Warten auf Weihnachten kein beteiligungsloses Abwarten sein und sich nicht in heimeligem Zur-Ruhe-Kommen bei Apfel, Nuss und Mandelkern erschöpfen darf: Der musikalisch untermalte Impetus, sich freudig empor zu schwingen, fordert das Bemühen des Menschen, seinen Geist zu Gott zu erheben – die Nähe zum altehrwürdigen gregorianischen Eröffnungsgesang des ersten Adventsonntags ist unverkennbar: „Ad te levavi anima mea – Zu dir erhebe ich meine Seele.“
Ein forschender Geist? Ja, bitte!
Nun dürfte den mit der Brille postmoderner Rationalität auf sich selbst blickenden Erdenbürger*innen allerdings auch der Inhalt dessen längst fraglich geworden sein, was der Psalmist noch in symbiotischer Gottesgewissheit als „Seele“ besingt und der Bach-Librettist vollmundig als Gott preisenden „Geist“ bezeichnen konnte. Finden wir in der Vernunftbegabung des Menschen tatsächlich eine Spur seiner „Gottebenbildlichkeit“ oder ist sie doch viel eher eine findige Laune der biologischen Evolution von der kräuchenden Amöbe zum Spekulatius futternden und über sein Wesen sinnierenden homo sapiens?
Gewiss ist die Geistesfähigkeit des Menschen nicht zu verwechseln mit den Hui-Buh-Geistern größerer oder kleinerer Privatoffenbarungen, aus denen furchtsam gestimmte Christgläubige mitunter ihre religiösen Gewissheiten speisen mögen. Und doch stellt sich die Frage, wie Gott anders zum Menschen gelangen sollte, als dass dieser sich in seiner endlichen Vernunft nach dem Unendlichen ausstrecke in der Hoffnung, dass da einer sei, der ihm entgegen kommt. Neben allem, was wir in der Glaubensgeschichte des Christentums an Texten und Geschehnissen als göttliche „Offenbarung“ befunden haben, findet der Mensch Gott zuvorderst doch in seinem „forschenden Geist“.
Advent – begründetes, doch stets prekäres Hoffen
Unter dieser Prämisse gäbe es jedoch weit weniger Unhinterfragbares von Gott zu wissen, als uns wohl bestallte Kirchenvertreter und universitäre Gottesdenker*innen häufig glauben machen wollen, von denen man sich gelegentlich wünschen mag, dass sie sich die Worte der abschließenden Sopran-Arie in unserer Kantate zu Herzen nähmen:
„Auch mit gedämpften, / schwachen Stimmen / wird Gottes Majestät verehrt.“
Der modus laudandi, die angemessene Haltung der Gottesverehrung, wäre sodann eben die des Hoffens – rational begründet, aber stets prekär – in freudiger Stimmung, aber bitte mit der gebotenen theologischen Bescheidenheit angesichts des offenen Ausgangs.
Der „hohe Advent“, die letzte Woche vor Weihnachten, in die wir mit dem gestrigen Gaudete-Sonntag eingetreten sind, könnte eine verdichtete Zeit der Einübung in diese Geisteshaltung der freudigen Hoffnung sein:
„Denn schallet nur der Geist darbei, / so ist ihm solches ein Geschrei, / das er im Himmel selber hört.“
Hashtag der Woche: #schwingdichempor