Am 09. November jährt sich die Plünderung und Zerstörung jüdischer Geschäfte und Gotteshäuser im nationalsozialistischen Deutschland, die Reichspogromnacht von 1938, zum 79. Mal. Die an diesem Tag verübten Gewalttaten gegen Gebäude und jüdische Mitbürger*innen bildeten den Auftakt für den industriell organisierten Massenmord an den europäischen Jüd*innen. Wie die Erinnerung daran 79 Jahre danach aussieht – und aussehen soll – problematisieren Steffen Bayer, Jonatan Burger und Dr. Johannes Heger auf y-nachten.de in einem Doppelartikel. Der erste Teil erschien gestern hier.
#02 Yolocaust und Co.
Das Bild besitzt eine besondere Macht, mehr noch als das Wort hat es das Potential, schnell und eindrücklich Geschichte zu erzählen. Bilder der Leichenberge aus Auschwitz sind in der stark visuell orientierten Medienlandschaft daher sozusagen Dynamit. Ein konkret-explosives Beispiel dafür ist das Projekt yolocaust des Bloggers Shahak Shapira.
Anfang des Jahres hinterlegte er zwölf auf Social-Media-Kanälen gepostete Selfies des Holocaust-Mahnmals in Berlin mit Bildmaterial aus Vernichtungslagern. 2,5 Millionen Menschen besuchten die Seite und Shapira bekam sehr unterschiedliche, aber überwiegend positive Reaktionen zugesandt. Am Ende hatten sich die Urheber*innen aller zwölf Selfies bei ihm gemeldet und sich fast alle für ihren unangemessenen medialen Umgang mit dem Mahnmal entschuldigt. Grundsätzlich also ein gelungenes Format, das dem Gedenken der Opfer und dem sensiblen Umgang mit den Medien der Shoa angemessen ist? Kann auch ich, kann jede*r auf diese technisch recht unkomplizierte Art die Shoa thematisieren? Oder stellt die jüdische Abstammung Shapiras eine besondere Legitimation für die Kombination aus vergangenem Leid von Juden*Jüdinnen und aktuellem unbeschwertem Leben dar, ohne die eine solch provokante Melange nicht gewagt werden darf? Wie kann ein sorgsam reflektierter Umgang mit dem leicht zugänglichen und manipulierbaren Bildmaterial aus Auschwitz aussehen?
Das wesentliche Mittel Shapiras, das er wie vergleichbare Artikel (VICE, Grindr) in Kauf nimmt, ist das Schockmoment. Im langsam realisierenden Blick auf die Bilder von Auschwitz liegt jene Ahnung des Grauens, das die antiken Griechen gemeint haben müssen, wenn sie der Fabelfigur Medusa zuschrieben, dass sie Menschen mit ihrem Blick zu Stein erstarren lässt. Der Erziehungswissenschaftler Helmut Schreier bemüht diesen mythologischen Vergleich, wenn er die Macht der Bilder im Rahmen der Erinnerung beschreibt: „As if pictures provided a mirror in which we may look at the head of Medusa.“[1] Das zumindest innere Erstarrt-Sein ist ein vielversprechender möglicher ‚Effekt’, der einen wichtigen Schritt zur geforderten Medienkompetenz darstellen kann: ein echtes Innehalten und Zurücktreten, um sprachlos zu werden und dem Gedenken an die Opfer Raum geben zu können.
Angesichts unseres Medienkonsums sind wir aber auch herausgefordert, wachsam zu sein, nicht in ein alltägliches Katastrophengewöhnungsdenken abzurutschen oder uns gar verleiten zu lassen, unsere Art der Erinnerung als eine „primär geschmacksorientierte neue Geschichtsfreudigkeit“[2] zu verstehen, wie es der Theologe Johann Baptist Metz unserer Zeit attestiert. Sind die bildhaften Zeugnisse des größten Verbrechens der Menschheit am Ende nur einige von unzähligen Medien, die dazu führen, dass wir irgendwann zu den „mit allen Wassern des inszenierten Horrors gewaschenen ‚Menschenkindern’“[3] gehören? Obwohl es in der Verantwortung der Autor*innen liegt, dass die dargebotenen Medien eine angemessene Form der emotionalen Identifizierung bieten, sind auch die Rezipient*innen gefragt, ihre eigene mediale Erwartungshaltung bspw. anhand der Stichwörter ‚Opferschaft’, ‚Distanzierung’, ‚Faszination’ und ‚Überwältigung’ zu reflektieren.
#03 KIZ
Die Einstellungen vieler Menschen prägt – wenn auch teils unbewusst – kaum etwas so sehr wie die Musik. Provozierende, aber mit ihrem jüngsten Album „Hurra, die Welt geht unter“ wohl auf jeden Fall im Mainstream angekommene Künstler sind KIZ. Im Eröffnungstrack der neuesten Veröffentlichung, „Wir“, der um die Selbstvergöttlichung der Rapper kreist, lässt diese Line aufmerken:
„Hab‘ Originalaufnahm‘ vom Holocaust, denn ich hatte meine GoPro auf“
Wie muss diese Zeile verstanden werden? Für Theolog*innen sind die Anklänge an Theodizee-Debatten und eine „Theologie nach Auschwitz“ unvermeidbar. Aber zumindest vordergründig werden hier angesichts millionenfacher Opfer industrieller Massentötungen nicht etwa die Allmacht Gottes und dessen Güte in Frage gestellt oder an eine steigende Sensibilität in puncto Erinnerungskultur appelliert, wie man dies aus der Theologie gewohnt sein mag. KIZ wählen einen komplett anderen Weg: Wenn man dem Track nicht interpretatorisch einigen Tiefsinn attestieren wollte, müsste man ihn aus der Perspektive dieser selbsternannten Götter beinahe so (miss-)verstehen: „Shoa? Fuck it. Who cares?“
Man sollte KIZ nicht vorschnell Geschichtsvergessenheit unterstellen. Wenn man andere nationalismuskritische Zeilen etwa in „Boom Boom Boom“ daneben stellt, wird deutlich, dass die Texte bei dieser Gruppe niemals willkürlich, sondern aus einer klaren politischen und durchaus auch leidsensiblen Perspektive entstehen. Aber trotzdem bedarf es zum Verständnis einer gewissen Rezeptionsleistung. Wenn diese ausbleibt, droht der fast spielerische Umgang mit der Shoa problematisch zu werden. Im Falle der ironischen Nationalhymne „Biergarten Eden“ fällt die Identifizierung der Ironie und deren politischer Zielrichtung leichter:
„Wir laufen barfuß über die Scherben der Reichskristallnacht, wünschen allen Emigranten eine weiße Weihnacht.“
Bei „Urlaub fürs Gehirn“ schon schwerer:
„Wie? Es gibt kein deutsches Ghetto? Wir ham‘ Ghettos hier erfunden!“
Sieht Erinnerung über 70 Jahre danach so aus? Ist sie popkulturell und alltäglich geworden? Wo liegen die Grenzen zwischen bitterbösem Humor, kritischer Satire und keinesfalls unschuldiger Banalität? Muss man froh sein, wenn KIZ überhaupt noch – selbst mittels bewusster Grenzverletzung – auf die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen aufmerksam machen, da sie drohen, vergessen zu werden? Kann dem Anliegen der stetigen Erinnerung und des „Nie wieder Auschwitz!“ besser entsprochen werden, wenn die Shoa nicht tabuisiert, sondern als ein historisch-kulturelles Motiv unter unzähligen angesehen wird, dessen man sich für kulturelle Neuschöpfungen einfach so bedienen darf und dies somit auch häufiger tut? Oder anders formuliert: Kann Erinnerung vielleicht gerade immer dann besonders gelingen und eine Breitenwirkung erzielen, wenn sie sich im Konflikt ereignet, plural ist, in ihren Konventionen immer wieder neu angefragt und ausgehandelt werden muss? Was passiert aber dann, wenn diese Musik auch von Jugendlichen gehört wird, die so vielleicht zum ersten Mal mit der Shoa konfrontiert werden?
Was bleibt?
Eingangs wurden Grundprobleme und Anfragen an die gegenwärtige deutsche Erinnerungskultur markiert. Dem folgten exemplarische Erläuterungen sehr verschiedener und auch unkonventioneller Formen der Erinnerung an die Shoa. Dabei entstanden aber nicht, wie vielleicht von einigen erhofft, konkrete Ab- oder Anleitungen für eine Systematik einer zeitgemäßen Erinnerungsform. Vielmehr erwuchsen sehr spezifische, am einzelnen Beispiel sich entzündende neue Anfragen, denen nachzukommen es eigener Artikel oder gar längerer Essays bedürfte. Was aber bleibt generell über diese und derartige neue Formen der Erinnerung zu sagen?
Angesichts Auschwitz plaudern sie nicht und lassen uns auch nicht einfach so weiterzuleben, wie wir es gewohnt sind. Vielmehr überwinden sie das Schweigen und den Gewöhnungseffekt, indem sie die Shoa ungewohnt inszenieren und uns damit irritieren oder gar verstören. Gleichzeitig verhindern sie mit ihrer innovativen Ästhetik, dass sich ihre Rezipient*innen neuerlich einem „Schon wieder?“ hingeben.
Eli Wiesel hat einmal gesagt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit sei.[4] Von dieser denkerischen Vorlage her lässt sich also sagen: Alle neuen Erinnerungsformen sind auf ihre Weise bemüht, die Gleichgültigkeit zu überwinden und somit dem Gegenteil von Liebe Paroli zu bieten. Sie tun dies, indem sie verschiedene Facetten der Shoa künstlerisch heranziehen, aktualisieren und damit zu einer Auseinandersetzung der Menschen im Jetzt und Hier aufrufen.
Und genau hier liegt potenziell eine und definitiv unsere Antwort auf die Frage nach dem „Was bleibt?“: Moderne (pop-)kulturelle Verarbeitungen der Shoa, die durch ihre Innovation den „Schon wieder?“-Effekt zu vermeiden suchen, rufen an sich keine Menschlichkeit hervor. Vielmehr bieten sie einen Anstoß und einen Denkrahmen für die persönlich-existenzielle Auseinandersetzung mit den unaussprechlichen Schrecken der Vergangenheit. Sie können Gleichgültigkeit und teilnahmsloses Schweigen in notwendige Denk- und Sprachbewegungen verwandeln. So lassen sich die aufgeworfenen Fragen, zu denen sich jeder Mensch heute verhalten muss, nicht in absoluter Bestimmtheit oder für alle überzeugend auflösen. Eher regen die betrachteten „neuen“ Erinnerungsformen den*die Einzelne dazu an, sich persönlich-existenziell mit dem „Wie“ der Erinnerung zu befassen. Damit geht das „Wie“ immer mit dem „Was“ der Erinnerung einher, was vor Geschichtsrelativismus bewahrt.
Dafür, dass die Liebe den Hass überwindet, braucht es aber konkret nicht nur debattierende, sondern handelnde Menschen in der Gegenwart. Dafür, dass an den Opfern zumindest im Gedenken eine Gerechtigkeit geübt wird, die ihnen zu Lebzeiten nicht zuteilwurde, braucht es Menschen, die in Wort und Tat Sorge dafür tragen, dass sich das „Schon wieder?“ zum „Nie wieder!“ wandelt. Menschen wie uns, Menschen wie euch.
Hashtag der Woche: #remember9thnovember
Mitarbeit: Dr. Johannes Heger und Jonatan Burger
Credits Titelbild: Steven Lilley
[1] Schreier, Helmut, The Holocaust: Consequences for Education. A German Perspective, in: Ders./Heyl, Matthias (Hg.), Never Again! The Holocaust’s Challenge for Educators. Including the first English translation of Theodor W. Adorno’s famous essay: „Education after Auschwitz“. Hamburg 1997, 189-198, 190.
[2] Metz, Johann Baptist, Plädoyer für eine anamnetische Kultur, in: Konrad, Franz-Michael/ Boschki, Reinhold/Klehr, Franz Josef (Hg.), Erziehung aus Erinnerung. Pädagogische Perspektiven nach Auschwitz (= Hohenheimer Protokolle 48), Stuttgart 1995, 11-19, 12.
[3] Roth, Peter, „Da wusste ich, oh, das wird schlimm“, in: KatBl 135 (2010) 34-38, 34.
[4] Vgl. Schwenke, Oliver (Hg.), Erinnerung als Gegenwart, Eli Wiesel in Loccum, Loccum 1986, 157.
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