Die ästhetische Dimension von Liturgie wird im Diskurs um gelingende Pastoral und Liturgie häufig vernachlässigt. Dennoch haben Gottesdienste oft zu starken Showcharakte. Andreas Feige fragt sich, warum alle warten bis das Licht aus und der Vorhang auf geht oder ob schon lange der*die Letzte das Licht in der Kirche ausgemacht hat.
Qualität statt Quantität
Vielerorts wird mit enormem Aufwand versucht, flächendeckend den Besuch einer Eucharistiefeier zu ermöglichen. Ob die angebotene Feier gehaltvoll vorbereitet und gefeiert wird, ist dabei häufig erst einmal egal. Hauptsache, es findet eine Messe statt. Prinzip: Gießkanne! Trotz des Mangels an Priestern, einer häufig im Kirchschiff verteilten – meist sogar eher „versprengten“ – Gottesdienstgemeinde und dem Fehlen von versierten Kirchenmusiker*innen, ist die Anzahl der sonntäglichen Eucharistiefeiern in den letzten Jahren nur wenig reduziert worden. Dessen ungeachtet ist der Frust bei vielen aktiven Kirchenmitgliedern groß, dass überhaupt eine Reduzierung stattgefunden hat.
Dabei wäre es sehr wichtig, einen Perspektivwechsel zu wagen und die Frage zu stellen: „Braucht es vielleicht nicht mehr Gottesdienste, sondern ‚bessere’?“ Denn: Katholische Liturgien, wie sie gegenwärtig gefeiert werden, haben ein Qualitätsproblem. Dem vorweg geht zudem ein – wie der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann konstatiert – fehlendes Qualitätsbewusstsein. Worin besteht nun aber das Qualitätsproblem?
Die Performance stimmt nicht
Erstens: Es hat eine faktische Deritualisierung der Liturgie stattgefunden. Täglich finden etliche „Betsingmessen“ statt, die eine (wenn überhaupt) durchschnittliche Performance aufweisen. Der Grund für den Verlust des für die Liturgie charakteristischen rituellen Handelns liegt – wie oben schon angeklungen – mehr als wahrscheinlich an der hohen Frequenz an Eucharistiefeiern, die ein Priester zu feiern hat. Zusammengefasst: Mit der immensen Eucharistiehäufigkeit ist eine rituelle Reduktion einhergegangen.
Zweitens: Es wird weniger gefeiert, dafür umso häufiger „die Messe gelesen“. Meint: Das rituelle Handeln, in dem Botschaften mit den expressiven Mitteln der Sprache und des nonverbalen körperlichen Verhaltens kommuniziert werden, wurde überlagert, wenn nicht gar ersetzt, durch die Vermittlung diskursiver Botschaften. Hierbei ist die Sprache des Gottesdienstes zum Kommunikationsträger geworden. Es werden Bibeltexte, Gebete oder vorbereitete Reden von unterschiedlichen Personen vorgetragen oder, wie manchmal der Eindruck entsteht, eher vorgelesen. Von einer wirklichen participatio actuosa, also einer aktiven Beteiligung und Einbindung der Gottesdienstbesucher*innen, die vom II. Vatikanische Konzil maßgeblich gefördert wurde, kann bei einem solchen Setting nur noch sehr bedingt gesprochen werden. Viele Eucharistiefeiern sind also durch einen Wortschwall bestimmt, mit dem – gewiss zumeist in bester Absicht – die Gläubigen belehrt werden sollen.
Bühne frei!
Um nicht nur beim Kritisieren zu bleiben, sei nun unbedingt die eingangs schon angeklungene Frage in den Raum geworfen: „Was kann die Kunst der Liturgie von der Kunst des Theaters lernen? Was nicht? Warum?“ Dieser Fragestellung ist der Wiener Ex-Jesuit, Schauspieler und Trauerredner Hannes Benedetto Pircher auf den Grund gegangen. Pircher, der das Thema in einer Monografie umfassend beleuchtet, vertritt hierbei die These: Liturgie ist das Theater des Ritus.
Was die Liturgie nicht vom Theater lernen kann, ist schnell erörtert: Im Theater gibt es zwei Räume (Bühne und Zuschauerraum), in der Liturgie sollte es hingegen nun einen Raum geben. Eigentlich. Denn nicht selten entsteht auch hier der Eindruck, als gäbe es zwei Räume (Altarraum und Kirchenschiff). Eine elliptische Raumanordnung setzt hier das Bestreben des II. Vatikanischen Konzils, endgültig die „Schranke“ zwischen liturgischer Bühne und Gemeinde abzubauen, konsequenter um. Als besonders gelungenes Beispiel ist hier die Würzburger Augustinerkirche zu nennen. Ein Zweites: Ist zwar auch in einer Theateraufführung durch Erleben, Assoziieren, Erinnern und Vergleichen eine aktive Beteiligung der Besucher*innen erkennbar, so weist die Liturgie doch mit festen Formen von Gebeten, Liedern, Fürbitten, Kommuniongang, etc. eine stärkere Partizipation der Beteiligten auf. Zudem kann vermeintlich passives Zuhören und Mitsprechen mit einer sehr großen inneren Aktivität des*der Gottesdienstbesucher*in einhergehen.
Schnittstellen von Theater und Liturgie sowie mögliche Lernfelder für den Gottesdienst ergeben sich vor allem im Blick auf die Kategorie „Erfahrung“. Denn für Theateraufführung und liturgische Feier gilt: Es gibt eine Aufführungssituation. Selbst wenn im Theater jeden Abend das gleiche Stück gespielt wird und auch die Messform einer ständigen Wiederholung gleicht, so ist doch jede Theateraufführung und jede Eucharistiefeier ein neues und einzigartiges Zusammenkommen mit vielleicht vorher nie dagewesen Stimmungen und persönlichen Erfahrungen.
Es ist also festzuhalten: Im Theater und in der Liturgie stehen das Erleben und die sinnliche Erfahrung im Mittelpunkt – nicht das gesprochene Wort! Hannes Benedetto Pircher nimmt hierbei insbesondere die vielen Menschen in den Blick, denen der liturgische Ritus fremd ist, weil in diesem die Möglichkeit zur Erfahrung fehlt. Der Schauspieler sieht es deshalb als Aufgabe der Kirche an, auf das heute oft in Vergessenheit geratene vorgängige Handeln Gottes zu verweisen und gibt zu bedenken, dass der menschliche Glaube nicht durch die Texte des Messbuches, sondern durch die Art und Weise des Erlebens geprägt werde.
Drei weitere Punkte lassen sich mit der theaterwissenschaftlichen Sicht des Hannes Benedetto Pircher feststellen. Erstens: Es gibt keine von der rituellen Handlung ablösbare Botschaft. Deshalb sollte der Fragenkomplex von Ritualität, Sprachspiel und Nichtintentionalität reflektiert werden. Dazu gehört zum Beispiel die Sprachpflege: „Wie vollziehe ich einen fremden Text, dass er ‚meiner’ wird?“ Zweitens: Viele Liturg*innen inszenieren nicht bewusst. So sind neben der Sprache auch Körperbewegungen und ihre dynamische und interaktionale Bedeutung für szenische Vorgänge in der Liturgie von großer Bedeutung. Dabei kommt die Frage auf, wie sehr der Körper das Ritual formt und ob er nicht sogar das eigentliche Subjekt des Betens (und Glaubens) ist? Es gilt also zu analysieren, wie über Glaubenserfahrungen im Modus einer „Botschaftung“ gesprochen werden kann und wie jene Erfahrungen mit „einem Handeln zum Zwecke des Schauens“ wirkungsvoll auf der Bühne darzustellen sind. Drittens: Bei jeder Inszenierung gilt – wie Pircher es nennt – das Prinzip der „Epiphanizität“. Flapsig formuliert, ist damit gemeint: „Es zählt nur das, was ankommt.“ In Theater und Liturgie geht es also weniger darum, was man gestalten kann, als um das, was beim Gestalten erscheint, epiphan wird.
Qualität ist kein Zufall
Wird die Analogie von Liturgie und Theater untersucht, so stellt sich heraus, dass viele Kommunikationsweisen des Theaters – verbal und nonverbal – auch in der Liturgie vorhanden sind. Doch sind die Bemühungen um eine gleichermaßen traditions- und zeitgemäße Ästhetik noch lange nicht ausgereizt. Hingegen verdichtet sich der Eindruck, dass in Pastoral und Wissenschaft viel mehr über eine angemessene Liturgiesprache diskutiert wird. Nicht zuletzt im Zuge des Spiegel-Bestsellers von Erik Flügge. Ich frage mich: Wer diskutiert über die Liturgie als ästhetische Dimension des Glaubens?
Liturgien mit einer gehaltvollen Inszenierung sind nicht ausschließlich theoretisches Konzept, sondern können in der Praxis wirklich umgesetzt werden. Dies erfordert entsprechende Kompetenzen, weshalb vor allem eine Intensivierung der liturgischen Bildung unverzichtbar ist. Die Liturgiewissenschaft sollte vermehrt den interdisziplinären Austausch mit Theaterdramaturg*innen, Kirchenmusiker*innen und Künstler*innen suchen. Die kirchlichen Ausbildungsstätten seien ermutigt, das Können von jenen Fachleuten in ihre Ausbildung zu integrieren. Für die liturgischen Dienste wären Fortbildungen zur Ästhetik der Liturgie sinnvoll. Aber auch bspw. Vorträge oder Workshops zur Schärfung der (sinnlichen) Wahrnehmung im Gottesdienst könnten für die gesamte Gemeinde langfristig zu einer Aufwertung und Vertiefung der liturgischen Feiern führen.
Möglicherweise kann beim Lesen dieses Artikels der Eindruck entstehen, dass die Liturgie durch eine möglichst perfekte Vorbereitung und Durchführung zum Theater bzw. zur Show verkommen könnte. Deshalb soll abschließend folgender (vielleicht etwas fromm anmutender) Gedanke nicht verkannt werden: Es geht immer darum, dass Menschen in der Liturgie Gott begegnen können, dass sie berührt und verwandelt werden. Der Geist Gottes ist dabei zwar durch eine perfektionierte Liturgie nicht leichter hervorrufbar, es wird ihm allerdings auch nicht „im Weg gestanden“.
Man kann also sagen: Der Geist weht, wo er will. Der Geist fehlt allerdings auch, wo er will. So ist es die Aufgabe von Liturg*innen (und Kirchenmusiker*innen!), den Nutzen der liturgischen Elemente zu optimieren und ihren Schaden zu minimieren. Hinter der angestrebten Perfektion offenbart sich dann vielleicht sogar eine wahre Leichtigkeit.
Hashtag der Woche: #wasfüreintheater
(Beitragsbild: @sebbb)
Literatur:
Frenzel, Nina: Liturgie – Das große Gottestheater? Szenische und musikalische Dimensionen. Tagungsbericht über ein interdisziplinäres Kolloquium des Seminars für Liturgiewissenschaft in Bonn, in: LJ 62 (2012).
Gerhards, Albert: Die Ästhetik der Liturgie. Wie christliche Gottesdienste gestalten?, in: Wie heute Gott feiern? Liturgie im 21. Jahrhundert (= Herder Korrespondenz Spezial), Freiburg: 2013/1, S. 9-13.
Messner, Reinhard: Einige Defizite in der Performance der Eucharistie, in: Wahle, Stephan/Hoping, Helmut/Haunerland, Winfried (Hg.): Römische Messe und Liturgie in der Moderne. Freiburg: Herder, 2013, S. 305-345.
Pircher, Hannes Benedetto: Das Theater des Ritus. De arte liturgica. Wien: edition splitter, 2010.