Irgendwie wird alles politischer. Irgendwie wird alles lauter. Irgendwie wird alles komplizierter. Irgendwie kommen nicht mehr alle mit. So könnte man die momentane gesellschaftlich-politische Stimmung einfangen. Hannah Ringel schreibt, warum und wie wir reden müssen und Jürgen Habermas und Johann Baptist Metz uns deshalb etwas zu sagen haben.

Mach’s wie Habermas

Jürgen Habermas hat eine Anleitung geschrieben, wie man (auch politisch) diskutiert: Die Diskursethik. Regeln für einen Diskurs, welcher öffentlich geführt wird, und zwar auf eine herrschaftsfreie, inklusive Art, frei von Zwang und Täuschung. Er zeichnet ein System, in dem es jedem*r leicht gemacht wird, sich in öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen zu informieren, um den eigenen Standpunkt rational und kommunikativ vertreten zu können und somit Anwalt*Anwältin der eigenen Belange zu sein. Eine Gesellschaft, die so offen, fair und selbstreflektiert ist, dass die bestehenden Zustände nicht andauernd diskutiert werden, aber andauernd potentiell zur Diskussion stehen. Auf diese Weise kommt Habermas mit der Diskursethik zu einem Verfahren, welches keine inhaltlichen Vorgaben über Themen oder sogar Normen macht, sondern beides dem öffentlichen Diskurs überlässt, dafür aber Regeln für den Diskurs selbst aufstellt, um diesen eben möglichst herrschaftsfrei und inklusiv zu gestalten. Ein Verfahren also, welches auf den Konsens der Gesellschaft zu bestehenden Normen setzt und, wenn dieser Konsens nicht mehr besteht, Rahmenbedingungen für die Erreichung eines neuen Konsenses auf einer vernünftigen und für jede*n verständlichen Ebene im öffentlichen Diskurs stellt. Und zwar Bedingungen, welche alle Menschen in den Diskurs integrieren wollen, um jeder*m die Möglichkeit zu geben sich selbst zu vertreten. Alle dürfen sprechen, alle werden gehört.

So weit so gut. Oder?

Es bleibt allerdings die Frage: Was ist mit all jenen, welche trotz immer besser werdender Umstände, keine Möglichkeit haben, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen? Für diese Fälle muss kein medizinisches Notfallszenario bemüht werden. Menschen, welche die 24 Stunden ihres Tages dafür brauchen, um Geld zu verdienen, vielleicht mehrere Jobs arbeiten, um sich über Wasser halten zu können. Menschen, die für Angehörige sorgen. Menschen, deren 24 Stunden jeden Tag vorbei sind, bevor sie den Luxus hatten, sich politisch zu bilden und einbringen zu können. Was passiert also mit diesen Menschen, welche wie alle anderen eine Stimme brauchen, um in der Öffentlichkeit ihre Meinung geltend machen zu können und – weiter noch – ihre eigene Situation zum Thema der öffentlichen Debatte zu machen, die aber keine Möglichkeit haben, am Diskurs teilzunehmen?

Auftritt: Johann Baptist Metz

Der Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz setzt an diesem Punkt seine Kritik an der Diskurstheorie Habermas‘ an: Durch den Anspruch der Selbstvertretung jeder*s einzelnen und Habermas‘ gleichzeitige Forderung nach einer vernünftigen Debatte entsteht eine Spannung: Nicht alle sind permanent in der Lage, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Johann Baptist Metz etwa bezeichnet den Diskurs und seinen Anspruch nach Gleichrangigkeit unter diesen Voraussetzungen als Simulation und scheinsolidarisch.1 In Metz‘ Theologie stellt Solidarität eine Grundkategorie seiner neuen politischen Theologie und der Memoria passionis dar. Solidarität ist für ihn das, was aus der Doppelstruktur von Theologie und Politik entsteht.2 Metz fordert ein System, welches sich solidarisch zeigt mit Schwächeren, aus dem System Herausgefallenen.

Habermas, der auch von Solidarität spricht, diese aber einen wesentlich geringeren Platz einnehmen lässt, konzipiert diese anders.3 Spricht Habermas von Solidarität, dann meint er eine Solidarität zwischen Gleichgestellten innerhalb einer Gruppe, da seine Diskursethik prinzipiell daraufhin ausgerichtet ist, alle Betroffenen auf gleiche Weise teilhaben zu lassen. Wie oben bereits angeschnitten, will Habermas durch sein Diskursprinzip Gleichstellung und Gerechtigkeit befördern und darstellen. Deshalb argumentiert er grundsätzlich stark gegen Lösungsfindungsprozesse, welche auf asymmetrische Kommunikationssituationen rekurrieren, weil er seine Diskursethik nicht als System denken kann, welches Asymmetrien zulässt.

Perspective is key

Der eigentliche Knackpunkt der Debatte ist also eine grundlegende Entscheidung über die Perspektive, die es einzunehmen gilt, wenn Regeln für eine gerechte, herrschaftsfreie Gesellschaft errichtet werden sollen. Und schlussendlich die Frage: Wie geht man mit faktisch bestehenden Asymmetrien um, welche per se nicht gleichberechtigt und herrschaftsfrei sind? Habermas zeichnet ein formalistisches Verfahren, einen idealen Prozess der Diskursethik und der Willens- und Meinungsbildung nach, welcher grundsätzlich auf der Symmetrie aller Beteiligten aufbaut. Er denkt vom Normalzustand her. Deshalb baut er auf Maßnahmen, welche die bestehenden symmetrischen Verhältnisse stützen, nutzen und erhalten.

Metz dagegen denkt explizit von den von der Gesellschaft bereits Fallengelassenen her, welche (momentan) in einer asymmetrischen Beziehung zu ihren Mitmenschen stehen, weil sie auf Hilfe angewiesen sind und sich nicht von selbst in einen Zustand der Symmetrie setzen können. Metz fordert eine Solidarität mit denen, die aus verschiedenen Gründen, seien es rationelle, zeitliche, finanzielle oder medizinische, nicht ihren Platz in der Öffentlichkeit einnehmen können und im alltäglichen Diskurs ihre Position vertreten können. Denn in der Habermas’schen Diskurstheorie gedacht sind diese, sollten sie nicht am Diskurs teilnehmen können, auch aus allen darauf aufbauenden Prozessen ausgeschlossen: der kommunikativen Gemeinschaft, demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen sowie der nach Habermas daraus erwachsenden Solidarität. Hier trifft Verfahrensprinzip auf Einzelfall: Damit ein funktionierendes System für die Gesellschaft entworfen werden kann, muss – wie Habermas es getan hat – an einem gewissen Punkt verallgemeinert werden, um objektiv urteilen zu können.4 Habermas kann zwar die Forderung stellen, den Diskurs an der Möglichkeit der Teilhabe aller zu messen, aber keine asymmetrischen Verhältnisse in sein Verfahren einführen.

Sei mal symmetrisch!

Die Kritik Metz‘ zeigt aber: Dennoch muss es in Ausnahmefällen die Möglichkeit geben, Menschen eine Stimme zu (ver)leihen, um ihre Nöte sichtbar zu machen. Es muss also erlaubt sein, an die Habermas’sche Diskursethik eine Forderung der Solidarität nach dem Verständnis von Metz zu richten. Dennoch kann Teilnahme in Vertretung, eine geliehene Stimme, nur eine Ausnahme im Diskurs sein und ermöglichen, dass der*die betroffene Stimmlose auf absehbare Zeit die Stimme zurückerlangt, um sich selbst vertreten zu können. Denn wird Stellvertretung eine Norm, dann erreicht der Diskurs selbst nicht mehr die größtmögliche Zahl und leidet qualitativ5 unter fehlender Beteiligung. Außerdem schwindet dann die Not, Menschen möglichst rasch wieder in den Zustand einer Symmetrie zu setzen, weil Stellvertretung scheinbar ein funktionierender Weg ist.

Habermas und Metz sind klug. Sei wie Habermas und Metz.

Schlussendlich bleibt zu sagen: Die formalen Anforderungen an den Diskurs sind groß. Würden wir sie mehr beachten, würden gesellschaftliche Debatten nicht sofort unkomplizierter werden, aber wir würden vielleicht beginnen, wieder miteinander zu diskutieren und nicht nur laut zu sein. Es braucht aber genauso den Blick auf den*die Nächste*n. Wenn wir alle gelegentlich etwas leiser werden, dann hört man vielleicht auch mal seine*ihre Stimme. Und wenn es nur ein Flüstern ist, dann verleiht mal eure Bühne und euer Mikro. Oder nutzt sie, um von anderen zu erzählen.

Hashtag der Woche: #machswiehabermas


(Beitragsbild von @zhenhappy)

1 Vgl.: Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Freiburg [u.a.]: Herder, 2016 (Johann Baptist Metz. Gesammelte Schriften., 3.1), S. 243.

2 Vgl.: Ebd., S. 242.

3 Vgl.: Habermas, Jürgen: Gerechtigkeit und Solidarität. Eine Stellungnahme zur Diskussion über „Stufe 6“. In: Edelstein, Wolfgang; Nummer-Winkler, Gertrud (Hg): Zur Bestimmung der Moral. Philosophische und sozialwissenschaftliche Beiträge zur Moralforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986 ( Suhkamp Taschenbuch Wissenschaft, 628), S. 291- 318.

4 Vgl.: Benhabib, Seyla: Der verallgemeinerte und der konkrete Andere. Ansätze zu einer feministischen Moraltheorie. In: List, Elisabeth; Studer, Herlinde: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989 (Edition Suhrkamp 1407), S. 475.

5 Günther, Klaus: Diskurs. In: Brunkhorts, Hauke (u.a.): Habermas-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: Carl Ernst Poeschel. 2009, S. 305.

 

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hannah ringel (sie/ihr)

studierte in Freiburg katholische Theologie. Hannah hat mal für die Kirche zum Thema Digitalisierung gearbeitet ─ jetzt macht sie das für eine Unternehmensberatung. Außerdem werkelt sie an einer Dissertation zu den Themen Ethik und Digitalität und nutzt seit dem Foto hier links keine Einwegkaffeebecher mehr, versprochen! Hannah ist Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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