Neulich traf ich im Supermarkt auf einen Sticker: Wegwerfen ist Sünde (Weggooien is zonde). Er klebte auf Produkten, die kurz vor dem Überschreiten der Haltbarkeitsgrenze waren. Es zeigte sich, dass dies Teil einer größeren Aktion gegen Essensverschwendung ist. So bekommen die Kund*innen auch Tipps, wie sie die Lebensmittel zu Hause am besten aufbewahren können, und Obst und Gemüse, das nicht genau der europäischen Standardnorm entspricht, wird nicht weggeworfen. Auch die etwas krumme Gurke kann man also kaufen. Dies alles soll natürlich zu dem positiven Image beitragen, das die Supermarktkette Albert Heijn sich selbst geben will. Prima, dachte ich zuerst.

Säkularisierte Sünde

Doch dann setzte bei mir das berufsbedingte Grübeln ein. Der Sticker ließ mich nicht in Ruhe: verrückt eigentlich, dass ein Supermarkt so unbefangen das Wort Sünde benutzt. Die meisten Pastoren nehmen es gegenwärtig nicht mehr gerne in den Mund. Die Sünde scheint in der Kirche anders als früher einen fiesen Beiklang bekommen zu haben. Albert Heijn hat damit offensichtlich weniger Mühe. Wie ist so etwas möglich?

Ich sah den Sticker mit dem Wort Sünde wieder bei den verpackten Salaten: ein Relikt des Christlichen in einer weitgehend säkularisierten Kultur. Gerade weil über die Sünde in der Kirche kaum noch gesprochen wird, ist das Wort emigriert in einen Supermarkt. Auch wenn etwas schiefgeht oder jemand unter seinen Fähigkeiten bleibt, sagt manche*r: das ist doch Sünde. Denken Menschen dabei noch an die theologische Ladung dieses Begriffs? Es gibt auch Teufelchen und Engelchen in der Reklame, die Freizeitparks versprechen den Besucher*innen einen Tag im Paradies und im Fußball geschehen ab und zu echte Wunder. Es scheint beinahe, als ob die Säkularisierung an unserer Sprache gescheitert ist. Oft geht es dabei um Worte, die die Theolog*innen in der Mottenkiste abgelegt haben, die außerhalb der Kirchenmauern aber hartnäckig weiterbestehen. Denn dort haben sie noch eine Bedeutung für Menschen.

Die theologischen Ecken und Kanten dieser Worte sind dann freilich abgeschliffen wie ein Stein, der lange im Flussbett gelegen hat. Ich wendete mich an einen Mitarbeiter, der gerade die Regale auffüllte. „Eigentlich, junger Mann“, so dozierte ich, „sollten Sie nicht von Sünde, sondern von Schuld sprechen.“ Er schaute mich mit einem Blick an, der besagte: Ist dieser Kunde noch ganz dicht oder muss ich den Geschäftsführer holen? Ich murmelte eine Entschuldigung und verzog mich zu den Milchprodukten. Schuld, so hätte ich ihm gerne erklärt, ist ein weltlicher Begriff. Er bezeichnet eine Störung in der Beziehung, die jemand zu sich selbst und zu anderen hat, weil er*sie ihnen nicht gerecht werden kann, aber auch, weil er*sie hinter den eigenen Ansprüchen zurückbleibt. Das Wegschmeißen von überzähligen Lebensmitteln ist dafür ein gutes Beispiel. Sünde macht aus der Beziehung zwischen dem*der Einzelnen und den anderen gewissermaßen ein Dreieck. Denn das Schuldigwerden oder das etwas Schuldigbleiben betrifft immer auch die Beziehung zu Gott. Albert Heijn sollte darum von Schuld und nicht von Sünde sprechen, denn es ist ein Supermarkt und keine Kirche.

Moderne Form des Ablasshandels

Als ich meinen Einkaufskorb weiter füllte, kam mir noch ein anderer Gedanke, den ich nun jedoch für mich behielt, um nicht noch mehr Angestellte zu verwirren. Es sieht so aus, als hätte der Supermarkt mit seiner Aktion gegen Essensverschwendung eine moderne Form des Ablasshandels begonnen. Die Strafen, die man für seine Sünden auf Erden bekam, konnte man früher mit Geld ablösen. Der Ablass wirkte selbst für die, die schon im Fegefeuer saßen – noch so ein für eine säkulare Umwelt unverständliches Wort. Immerhin konnte man so etwas sehr Konkretes für seine Lieben tun, die bereits gestorben waren.

Die Reformatoren haben dieses Geschacher mit Gott zu Recht kritisiert. Heute würden sie sich vielleicht über Albert Heijn aufregen. Denn hier bezahlen die Kund*innen dafür, dass der Supermarkt erst gar nicht sündigt, indem er Lebensmittel wegwirft. Sie lösen die Schuld schon im Voraus ab. Der moderne Ablass ist perfekt kommerzialisiert. Die Frage, ob man überzählige Lebensmittel nicht besser verschenken könnte, kommt gar nicht erst in den Blick. Und wie damals gibt auch der moderne Ablass jedem und jeder ein gutes Gefühl. Man tut das Richtige.

Ich ordnete mich in die Schlange vor der Kasse ein, um abzurechnen, also (die Grübelei ließ sich nun nicht mehr stoppen) für das Letzte Gericht. Der Sticker ergab für mich eine Ersparnis von 35 Prozent auf den Salat. Dafür nahm ich die Sünde gerne in Kauf.

Hashtag der Woche: #Ernährungssünde

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dr. habil. stefan gärtner

ist Assistant Professor für Praktische Theologie an der Tilburg School of Catholic Theology, Niederlande.

One Reply to “Sündige Grübelei im Supermarkt”

  1. So ganz kann ich die Gedanken des Autors nicht nachvollziehen, insbesondere die Trennung zwischen weltlich und kirchlich. Es ist doch alles miteinander verwoben. Wenn ich ganz weltlich jemandem eine reinhauen, ist es Schuld und Sünde zugleich. Genauso bei der Lebensmittelverschwendung.
    Und im Grunde ist es mir egal, ob jemand aus religiösen oder ethischen oder finanziellen (Ersparnis) Gründen „richtig“ handelt – Hauptsache, er tut es.

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