Zwischen Birnbaum und Holunder

Wer seine Erinnerungen erzählt, befindet sich nicht im Zustand der Erinnerung. Akute Erinnerung kennt kein »Weißt du noch?«, sondern nur Damals-Unmittelbarkeit, Damals-Überwältigung. (62)

Der 1944 in Naumburg/Saale geborene Schriftsteller Botho Strauß lässt sich auf das Wagnis ein, weniger von der Erinnerung an sich, als nicht vielmehr von der Unmittelbarkeit, der Überwältigung der eigenen Erinnerung zu erzählen. Er entführt in dem 2014 erschienenen Büchlein „Herkunft“ in seine Kindheit, dorthin, wo

in einem Wegknick zwischen Birnbaum und Holunder noch der Gedanke hängt, den man damals als Neunzehnjähriger an gleicher Stelle, bei gleichem Blick faßte. (46)

Nicht Heimat, sondern Herkunft – und der Titel sollte zu denken geben: Heimat, das ist der Begriff, der für all unsere Phrasenphasen herhalten muss, für die meist wenig klugen, dafür umso eingänglicheren Sprüche über Heimat als den Ort, wo das Herz oder man selber angenommen ist – eben Plattitüden, mehr aber auch nicht. Ganz anders Strauß. Ihm liegen Plattitüden und nichtssagende Simplifizierungen fern. Er rekonstruiert seine Herkunft, zärtlich und ehrlich zugleich, und seine Erinnerungen werden dabei nicht dogmatisiert, sondern von sprachlichen Gitternetzen umwoben, angerissen, dann entwinden sie sich dem Erinnernden.

Fügt sich Erinnerung, so schwindet sie schon. Kontinuität der Darstellung, der Erzählung ist dem rohen, unberechenbaren Affekt, dem Anfall oder Ansprung von »verlorener Zeit«, etwas durchaus Unangemessenes. (89)

Auf knapp einhundert Seiten leuchten fragmentarische Erinnerungsepisoden auf, angestoßen von einem Birnbaum, einer Wegkreuzung, einem losen Zettel, einem Musikstück, sie werden sodann grob skizziert, umrahmt und sind im nächsten Abschnitt bereits wieder eingetaucht in das schwarze Loch des Gedächtnisses:

Schwarze Löcher im Gedächtnis sind in Wahrheit nicht seine Lücken, sondern Bereiche seiner höchsten Masseverdichtung. Alle äußerliche Materie stürzt ins Innere, stürzt aus der nüchternen Zeit. (69)

Der Geruch der Unschuld

Anlass für die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft ist für Strauß die Auflösung des Elternhauses. Im Mittelpunkt dabei der Vater, Kriegsversehrter des Ersten Weltkriegs, Literaturliebhaber, ein altmodischer Pedant, seinem Sohn durchaus peinlich, trotzdem geliebt – keine Verklärung der väterlichen Figur, keine schonungslose Abrechnung, stattdessen eine detailverliebte und ehrliche Zeichnung des Verstorbenen:

Ich fand den Verfasser-Vater neben dem Verfasser-Sohn. In diesem Grab jedenfalls liegen wir schon jetzt beieinander. (20)

Überall begegnet er dem Vater, jeder Winkel ist verbunden mit Geschichten und Erzählungen. Für manch einen mag die Rückwärtsgewandheit der straußschen Überlegungen befremdlich wirken, doch würde man ihn verkennen, so man ihm eine Ideologie des Historischen vorwerfen würde – oder gar einen fundamentalistischen Traditionalismus. Die Sehnsucht nach dem Einst hat bei Strauß nicht den Einschlag eines Früher war alles besser:

Es gibt keine selige Kindheit. Vielmehr gibt es im Lauf der Jahre ein gerütteltes Maß an Enttäuschungen, die einen zurückversetzen in jene Tage, als jedes Ding noch im Geruch der Unschuld stand, jedes Erlebnis die Versprechung enthielt, es werde bald einmal anders kommen […]. Meine Begriffe waren noch angereichert mit wertvollem Unwissen. (22)

Vielmehr ist es das einstige Staunen über all das noch zu entdeckende, das bei Strauß Sehnsucht hervorruft – die Welt der Kindheit, in der die Optionen noch unüberschaubar und deshalb grenzenlos sind, in der sich noch längst nicht alles offenbart hat und die doch zugleich beschirmt und beschützt ist von Ritualen, die Sicherheit bieten:

Die Behausung und die bergenden Zeremonien, sie sind für den einzelnen zuweilen das, was die Institutionen für die Gemeinschaft bedeuten; diese Regeln, die man durchaus nicht als leer ansehen mag, da sie offenkundig die Selbsterhaltungskräfte stärken. (10)

Das Mittagessen pünktlich um halb eins, der Morgenspaziergang, die zehnminütige Gymnastik am offenen Fenster, „diese kleine Kuhle warmer und wohliger, enger und spannungsloser Gewohnheit“ (33).

Dass sich Identität aus der eigenen Geschichte heraus konstruiert, ist nichts neues. Neu jedoch ist die sprachliche Gewalt, mit der Strauß seinen Leser hinaus reißt aus der Frage nach dem Morgen und zurückwirft in das Gestern, in dem sich sein eigenes Morgen schon vollendet hat.

Expandieren auf dem Feld der Erinnerung

Es sind zu viele Sätze, die sich aufdrängen, die wiedergegeben werden möchten. Da hilft nichts, nur selber lesen. Sodann das Umreißen einiger unumgänglicher Gedanken, abschließend sind sie gewiss nicht, eher aufbrechend.

Wie eine Lawine überrollt die Erinnerung seine*n Träger*in, und hier

erscheint auf einmal Erinnerung als ein zu possierliches Wort. Das Subjekt tritt in die Aura seiner Damaligkeit. Was war, überkommt es wie ein Anfall. (47)

Momente der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins. Und die Sehnsucht, immer wieder diese nagende Sehnsucht nach dem Einst, der Neugier der Kindertage. Und einmal Matthäus 18,3 („Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“) in genau diesem Horizont lesen.

Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht, so daß Fernweh und Heimweh, Erwartung und Erinnerung in ein und demselben »Enzym« des Unerreichlichen symmetrisch angeordnet sind. (35)

Könnte hier die Chance des Christentums liegen? Die Charakterisierung der christlichen Hoffnung als jenem zeitdurchbrechenden Moment, in der Erwartung und Erinnerung in eins fallen. Identität und eigene Geschichte bleiben bestehen, und dürfen sich zugleich in einem neugierigen Staunen dem zuneigen, was zuvor unverständlich und fragmentarisch blieb.

Der Vater stirbt. Und

ich war fest davon überzeugt, daß einem Menschen bei Eintritt des Todes sich alle Lücken im Gedächtnis schlössen – ja, daß der Tod gar nichts anderes sein könne als der Aufstieg der vollendeten Erinnerung. (85)

Vollendete Erinnerung bedeutet doch nichts anderes als das Rätsel des eigenen Ichs lösen zu können. Für Strauß sind es „Prosa-Scherben“ (91), Bruchstücke des Daseins, deren Zusammenfügen das Jenseits beschreibt – und welches ganz individuell ist, für ihn ist es „ebendiese lange Brunnenhalle“ (87) von Bad Ems, Inbegriff von dem Ort, an dem sich seine eigene Geschichte manifestiert hat, wo die Toten und Lebenden nebeneinander wandeln, koexistieren können, wo das „Ideal […] Durchlässigkeit von Mensch und Wand und Welt“ (87) ist.

Als Christ*in bleibt die Hoffnung bestehen, dass die Prosa-Scherben des eigenen Daseins im Begriff und im Denken Gottes aufgehoben sind. Für Strauß erfüllt die Literatur ebendiese Aufgabe, eine Literatur, die vom Vater erzählt, welcher „die einzige Quelle meiner Erinnerung“ (15) ist. Nun ist er tot und das Elternhaus wird aufgelöst. Vorbei ist die Geschichte damit nicht:

Die Erweiterung eines Horizonts besteht nicht selten darin, daß sich einem das Gewesene eröffnet. Nur auf dem Feld der Erinnerung kann man noch expandieren, reicher werden, zunehmen. (21f.)

Erinnern, gedenken macht uns nicht kleiner, sondern größer.

Mit Beendigung der Lektüre endet nicht die Geschichte von Vater und Sohn, doch das schwarze Loch verdichteter Erinnerungen wird rissig und bricht zurück in die Gegenwart, und „was war, Geschichte, strömt durch die Fingerspitze im Traum“ (16).

Hashtag der Woche: #zurückindiezukunft


Alle Zitate sind entnommen der 2016 erschienenen Taschenbuchausgabe im dtv von Botho Strauß, Herkunft.

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annika schmitz

studierte katholische Theologie in Freiburg, Jerusalem und an der Yale University/USA. An der Universität Wien promoviert sie im Bereich von Literatur und Religion. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Journalistin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

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