A word is dead
When it is said,
Some say.

I say it just
Begins to live
that day.

(Poems, 278)

Welten erschaffen durch Sprache

Ein Zimmer in Amherst, Massachusetts, mit Blick in den Garten: Der Lebensraum von Emily Dickinson, geboren 1830, Tochter einer der angesehensten Familien der Stadt, betrug nur wenige Quadratmeter. Während ihrer 55 Lebensjahre verließ sie diese mit Ausnahme des Zeitraums eines einzigen Schuljahres so gut wie nie. Nach ihrem Tod im Jahr 1886 fanden sich in jenem kleinen Raum über zweitausend Gedichte: Die Welt der Emily Dickinson war eine Welt der Sprache.

Die Gedichte und die überlieferten Briefe präsentieren die Gedankenwelt einer Frau, die sich durch ihre Sprache einen eigenen Kosmos erschafft, in dem sie ausprobiert, was das Mensch-Sein bedeutet. Immer korreliert es mit der Versprachlichung: Es scheint, als ob die Welt für Dickinson aus Buchstaben besteht, die in sinnvolle Wörter und Sätze aneinandergereiht werden müssen, um aus der unendlichen Weite des Universums einen bewohnbaren Planeten zu kreieren.

Man stelle sich einen Sternenhimmel voller Schriftzeichen vor, die durch die Galaxien irren – Dickinson greift sie auf, setzt sie zusammen und lässt Planeten entstehen, die sie im nächsten Atemzug hinausschleudert und als Sprachsterne leuchten lässt, in der Hoffnung, sie mögen eine Hilfe sein um durch das Dickicht der Frage: Was ist der Mensch? einen gangbaren Weg zu schlagen. Man werfe nur einen Blick auf das eingangs zitierte Gedicht. Dass ein Wort nach seinem Ausspruch tot sei, ist unvorstellbar für Dickinson; ganz im Gegenteil, ein Wort beginnt zu leben im Augenblick seines Aussprechens. Das Gesprochene beschreibt nicht etwa, sondern ist: Der Sprechakt erst entwirft die erfahrbare Realität. Die biblische Parallele ist nicht von der Hand zu weisen. Der Gott des Alten Testaments spricht und scheidet Licht von Finsternis, Wasser von Land.

Dickinson schreibt und entwirft sich selbst, scheidet sich somit von ihrer Umwelt; sie definiert und fragt nach Begriffen, die zuvor durch einen inhaltsleeren Raum flogen:

Will there really be a »morning«?
Is there such a thing as »Day«?
Could I see it from the mountains
If I were as tall as they?

Has it feet like Water lilies?
Has it feathers like a Bird?
Is it brought from famous countries
Of which I have never heard?

Oh some Scholar! Oh some Sailor!
Oh some Wise Man from the Skies!
Please to tell a little Pilgrim
Where the place called »morning« lies!

(Poems, 148)

Poetische Näherung an den Tod

Wenngleich ihre Gedichte lebensbejahender und farbenprächtiger sind, als es der Lebensraum eines kleinen Zimmers vermuten lässt, so finden sich in ihren Gedichten immer wieder Auseinandersetzungen mit Leid und Tod, die wohl aus der häufigen Konfrontation mit dem Tod der ihr Nahestehenden resultieren. Ihre calvinistische Kinderstube beförderte wider Erwarten keine dogmatischen Simplifizierungen , stattdessen zeugt ihr literarisches Vermächtnis von einer Frau, die stets suchend, manches Mal fast umherirrend und verzweifelnd, weder zufrieden mit einem Ende des Lebens noch mit einem klar definierten ewigen Leben war und tagtäglich eine neue poetische Näherung an die Möglichkeiten einer transzendenten Hoffnung wagte.

In einem Brief an Abiah Root aus dem Jahr 1850 heißt es:

What shall we do, my darling, when trial grows more and more, when the dim, lone light expires, and it’s dark, so very dark, and we wander, and know not where, and cannot get out of the forest – whose is the hand to help us, and to lead, and forever guide us; they talk of a »Jesus of Nazareth« – will you tell me if it be he? (Letters, 69)

Das verlöschende Lebenslicht, das in das Dunkel der Ungewissheit hineinführt, könnte seine Antwort in jenem Jesus von Nazareth haben, an den zu glauben Dickinson sich nicht sicher ist. Vorerst irrt sie durch den Wald, den schon Dante im Ersten Gesang des Infernos durchwandert, bis Vergil ihm die Hand reicht. Schon hier ist es der Dichter, der aus der Finsternis heraus zum Licht führt. Auch Dickinson scheint weniger an der Hand des biblischen Gottes als nicht vielmehr an den Zeilen ihrer Gedichte entlangzulaufen. Wohin dieser Weg führt, entscheidet sich am Umbruch eines jeden Verses stets aufs Neue.

24 Jahre nach diesem Brief stirbt Emily Dickinsons Vater plötzlich in Boston. Gerade erst mit seinem Tod konfrontiert, schreibt sie 1874 an Louise und Frances Norcross:

Father does not live with us now – he lives in a new house. Though it was built in an hour it is better than this. He hasn’t any garden, because he moved after gardens were made, so we take him the best flowers, and if we only knew he knew, perhaps we could stop crying. (Letters, 74)

Metaphorisch nähert Dickinson sich dem Gedanken eines Lebens nach dem Tod. Dabei sind ihre Überlegungen von einer Ambivalenz geprägt, die sich erst mit dem Erfahren des eigenen Tods auflösen lässt: Ihr Vater lebt in einem neuen Haus, in einem besseren Haus als dem irdischen – das ist ihre Hoffnung. Und doch bleibt die Ungewissheit, ob es dieses Haus wirklich gibt, ob der Vater von den Blumen wissen kann, die sie ihm ans Grab bringen; und so rinnen ihr die Tränen weiterhin über das Gesicht.

Poesie des Todes

Dickinson unternimmt den Versuch, sich dem zu nähern, was außerhalb ihres eigenen Erfahrungsbereichs liegt. In diesem Unternehmen offenbart sie sich als ein zutiefst religiöser Mensch, der zufriedenstellende Antworten jedoch nicht in kirchlicher Lehre, sondern in der eigenen sprachlichen Suche findet.

Dass sie dennoch ihre christliche Prägung nicht verleugnen kann, zeigt folgendes Zwiegespräch:

Death is a Dialogue between
The Spirit and the Dust.
»Dissolve« says Death,
The Spirit »Sir
I have another Trust«

Death doubts it –
Argues from the Ground –
The Spirit turns away
Just laying off for evidence
An Overcoat of Clay.

(Poems, 973)

Vielleicht ist die den Umhang des Leibes abwerfende Seele die Näherung an das leere Grab, durch das jener Jesus von Nazareth, an den zu glauben Dickinson so schwer fällt, die Hoffnung an die Auferstehung von den Toten begründet. Der Tod wird auch hier überwunden, jedoch nicht durch den Kreuzestod, sondern einzig durch das Abwerfen der körperlichen Staubs. Die starke Metapher der ersten Zeile Tod ist ein Gespräch zwischen dem Geist und dem Staub eröffnet eine ganz eigene Definition des facettenreichen Todesbegriffs. Allein von diesem Gedicht aus wäre es sicherlich möglich, eine Theologie nach Emily Dickinson zu entwerfen. Hinfällig wird diese Theologie in dem Moment, da man sich einem weiteren Gedicht zuwendet, das zugleich beispielhaft verdeutlicht, dass jedes ihrer Gedichte Lichtblitze sind, einzeln aufleuchtende Ideen, die sich nur schwerlich in ein stimmiges Gesamtkonstrukt fassen lassen, sondern vielmehr von Ambivalenz geprägt sind:

Death is potential to that Man
Who dies – and to his friend –
Beyond that – unconspicuous –
To Anyone but God –

Of these Twoe – God remembers
The longest – for the friend –
Is integral – and therefore
Itself dissolved – of God –

(Poems, 650)

In diesen Zeilen löst sich das Individuum nach seinem Tod in Gott auf, das Gedicht nimmt fast pantheistische Züge an. Es ist keine Rede mehr von jenem Haus, das für den verstorbenen Vater in dem Brief an die Geschwister Norcross erhofft wurde und in dem die Wahrung der Individualität der Toten gewährt wird. Stattdessen wird deutlich, wie sehr Dickinson mit den verschiedenen Religionsformen ringt und sich letztlich situative Verständnismomente der Welterfahrungen aus Sprache baut, die sich stets überarbeiten und neu zusammensetzen lassen.

Ein dichtender Gott

Nun sind die hier erschienenen Zeilen lediglich eine magere Auswahl des literarischen Vermächtnisses von Emily Dickinson. In ihnen kommt die betörende Wirkung ihrer Gedichte und der ihnen innewohnenden Ambivalenz nur ansatzweise zum Ausdruck. Letztlich lässt Dickinson eine Vielzahl theologischer Deutungen zu, die meinige läuft auf folgende Quintessenz hinaus:

Der Gott der Emily Dickinson kann nur dann Gott sein, wenn er ein Poet ist, der aus dem Buchstabenstaub des Universums ein Gedicht zu zaubern vermag. Damit überwindet sie die Grenzen der Konfession und kehrt zurück zu den Anfängen der monotheistischen Religionen, in denen sich Gott stets als jener erweist, der dem Menschen sowohl in der Geschichte als auch in der Sprache begegnet. Die Antwort von Dickinson ist eine poetische. Diese poetische Antwort überdauert die Ungewissheit einer Existenz jenes Gottes, dem sie sich nur durch die sprachliche Erfahrung der Welt zu zu nähern weiß. Sollte sich dieser Gott als Trugschluss erweisen, so bleibt dennoch die Poesie und das Vertrauen in die Wirkmächtigkeit der Sprache, die sich Himmel und Erde in farbenprächtigen Varianten malen kann:

This world is just a little place, just the red in the sky, before the sun rises, so let us keep fast hold of hands, that when the birds begin, none of us be missing. (Letters, 47)

Hashtag der Woche: #sprachwelten


Sämtliche Zitate sind entnommen:

Emily Dickinson, Letters. Selected and edited by Emily Fragos. Everyman’s Library 2011.

Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte. Zweisprachig, übersetzt von Gunhild Kübler. München 2015.

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annika schmitz

studierte katholische Theologie in Freiburg, Jerusalem und an der Yale University/USA. An der Universität Wien promoviert sie im Bereich von Literatur und Religion. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Journalistin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

One Reply to “Ein Gott der Sprache”

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