Selbstidentifikation mit Terroropfern

„Je suis Charlie“ konnte man nach den Terroranschlägen auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 beinahe überall lesen. Alle waren plötzlich „Charlie“, auch wenn sie vorher noch nie etwas mit der Zeitung zu tun hatten oder überhaupt von deren Existenz wussten. Das schwarze Quadrat mit den weißen/grauen Buchstaben ging durch die Medien. Hochhäuser wurden damit angestrahlt. Facebook-Nutzer*innen ersetzten ihr bisheriges Profilbild dadurch. Alle waren „Charlie“ und zeigten so ihre Solidarität und ihr Mitgefühl mit den Betroffenen.

In ähnlicher Manier gab es eine Welle der Verbundenheit nach den Anschlägen im November 2015: „Je suis Paris“ lautete das Motto, mit dem sich wiederum unzählige Menschen identifizierten. Auch hier wollte man signalisieren, dass die französische Bevölkerung nicht alleine ist. Fast die ganze Welt war „Paris“ und litt mit den Einwohner*innen der vom Terror erschütterten Hauptstadt. Und Verbundenheit gab es auch jetzt, nach dem 19.12., mit Berlin: „Ich bin ein Berliner“ lautete der Slogan, auf den man im Netz kurze Zeit nach dem Anschlag treffen konnte.

„Je suis Paris“: Was nun treibt Menschen an, sich diesen Ausspruch zu Eigen zu machen? Fremde Menschen, die weit entfernt von der französischen Hauptstadt wohnen, sind „Paris“. Sie sagen von sich nicht nur aus, dass sie mit den Betroffenen mitfühlen oder Mitleid mit ihnen haben. Sie behaupten von sich, sie sind Paris. Das bedeutet, sie setzen sich selbst an die Stelle derer, die vom islamistischen Terror angegriffen wurden. Sie identifizieren sich mit ihrer ganzen Person mit den Opfern. Sie setzen sich selbst an Opferstelle. Zumindest behaupten sie das. Die Begegnung mit den erschreckenden und grausamen Ereignissen führt zu einer unerwarteten Reaktion. Man nutzt nicht die Macht, die man besitzt, um mit aller Entschiedenheit den Terrorismus zu verurteilen. Große Tageszeitungen druckten auf ihre Titelseite nicht eine lange Gegenrede, um sich gegen den Terror zu positionieren. Vielfach waren auch hier nur drei Worte zu finden: „Je suis Charlie“. Weil man sich freiwillig in eine Situation der Ohnmacht und Sprachlosigkeit begibt, kann man nichts anderes schreiben.

Wer sich mit den Opfern von Charlie Hebdo oder den Anschlägen vom 13.11.2015 identifiziert, lässt seine Macht los und nimmt eine Ohnmachtsposition ein. Er stellt sich auf eine Stufe mit denen, die von Attentäter*innen angegriffen wurden und die in ihrer Aktionsfreiheit eingeschränkt sind. Er macht sich selbst zum Betroffenen und geht von einer Außenseiterposition mitten in das Geschehen hinein. Und plötzlich ist man nicht mehr handlungsfähig. Die Sprache versagt angesichts der Brutalität und der Entschiedenheit der Täter*innen. Regungslos kann man nur abwarten, ohnmächtig auf eine Besserung der akuten Situation hoffen.

Macht und Ohnmacht Gottes

Bei ihrem grausamen Angriff auf unschuldige Menschen tragen die Terrorist*innen Gott in ihrem Mund. Sie bekennen: Gott ist groß. Sie meinen, sie handeln in seinem Auftrag, in seinem Willen und er ist es, der an ihrer Seite steht. Sie glauben, sich selbst zum Werkzeug Gottes zu machen, indem sie Andersgläubige töten. Doch Gott ist niemals auf Seiten der Mächtigen zu finden. Von unserem christlichen Gottesbild her können wir diesen Gedanken explizieren und ausfalten. In Jesus ist Gott in diese Welt gekommen und hat sich für die Schwachen und Armen eingesetzt. Die Marginalisierten und Ausgegrenzten hat er in die Mitte geholt und an seinen Tisch gerufen. Nicht die politische Oberherrschaft war die Zielgruppe der Predigt Jesu. Für ihn waren andere wichtiger. Seine Sendung galt gerade denen, die machtlos und der Willkür anderer ausgesetzt waren. Hier, in diesem Leben an den Grenzen der Menschlichkeit, zeigt sich die wahre Macht Gottes.

Zuhöchst wird sie am Karfreitag offenbar: Jesus begibt sich aus seiner Machtposition, die er als Sohn Gottes besitzt, freiwillig in die Ohnmachtssituation. Er tut kein Wunder, um sich aus den Händen der römischen Soldaten zu befreien. Er nutzt seine göttliche Macht nicht aus, um den Lauf der Geschichte zu verändern und dem Kreuz zu entkommen. Er nimmt ohne Widerrede das Urteil des römischen Statthalters an. In seiner absoluten Erniedrigung am Kreuz macht sich Jesus zu einem Mitleidenden mit all denen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Er nimmt die Ohnmacht auf sich, weil sich gerade hier die Macht Gottes offenbart. Die Torheit des Kreuzes liegt in dieser eigentümlichen Situation, in diesem paradoxen Verhältnis. Gott ist nicht bei denen, die ihre Macht mit aller Gewalt durchsetzen wollen. Gott ist mit denen, die sich erniedrigen, die am Rand stehen, die nicht mit allen Mitteln ihre Autorität klarstellen wollen. So wie aus der Ohnmachtssituation des Kreuzes das neue Leben erwächst, so wird Gottes Macht dort offenbar, wo Menschen ebenso von ihrer Stärke ablassen und sich der bedrückenden Sprachlosigkeit aussetzen. Dort lässt sich Gott finden. Dort tut sich ein Ort auf, an dem man angemessen von Gott reden kann.

Der Ort Gottes

Wenn Menschen so große Betroffenheit empfinden, dass sie sich selbst als Teil ansehen, der vom Terror angegriffen wurde, begeben sie sich in eine prekäre Situation. Sie setzen sich damit freiwillig einer fremden Macht aus, die sie nicht kontrollieren können. Und sie riskieren, dadurch auch ganz real zu Opfern eines neuerlichen Anschlags zu werden. Indem man „Charlie Hebdo“, „Paris“ oder „ein Berliner“ ist, erklärt man sich offen zum Gegner des Terrorismus. Doch die Solidarität mit denen, die vom Terror getroffen wurden, verlangt, dass man diese Gefahren in Kauf nimmt. Nur wenn man sich selbst in die Situation der Niedrigkeit und der Machtlosigkeit begibt, kann man wirklich Mit-Fühlende*r und Mit-Leidende*r sein. Erst so kann man die Sprachlosigkeit nachvollziehen, die im Anblick dieses Leids aufreißt und auf die Menschen hereinbricht.

Zugleich wird an diesem Ort der freiwilligen Erniedrigung auch eine neue Redeweise ermöglicht: die Rede von Gott. Weil er auf der Seite der Opfer ist, kann man nur angemessen von ihm sprechen, wenn man sich selbst an diesen gefährlichen Ort begibt. In dieser Situation der absoluten Ohnmacht, in der man ganz und gar der Willkür eines anderen ausgesetzt ist, wird die Macht Gottes wirksam. Hier zeigt sich die Kraft des Kreuzes. In der Schwäche des Menschen wird seine Stärke sichtbar. Das ist die Logik des Gottesreiches. Während die Attentäter*innen mit „Gott“ in ihrem Mund andere Menschen grausam hinrichten, verkennen sie eines: In der Machtposition kann man nicht angemessen von Gott reden, weil man sich nicht an einem Ort befindet, der diese Redeweise ermöglicht. Der Platz der Mächtigen und derer, die mit Gewalt anderen ihren Glauben aufzwingen wollen, ist Gott fremd. So oft sie bei ihrem Handeln auch den Gottesnamen ausrufen, sie verkennen, dass sie letztendlich nur einer selbsterdachten Ideologie folgen. Die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ hat diese Falschannahmen gestützt, indem sie zum Jahrestag des Anschlags auf die Redaktionsräume in Paris auf der Titelseite die Zeichnung eines Gottes veröffentlichte, der blutverschmierte Hände besitzt und eine Waffe auf dem Rücken trägt. Dadurch stellen sie Gott auf die falsche Seite. Sie weisen ihm einen Ort zu, der nicht der ihm eigene ist. Von dieser Zeichnung ausgehend, muss der Gottesdiskurs scheitern, weil er am falschen Ort betrieben wird.

Von Gott sprechen

Wer „Charlie“ ist, wer „Paris“ oder „ein Berliner“ ist, der positioniert sich eindeutig auf Seiten der Opfer. In dieser von außen betrachtet zutiefst machtlosen Situation wird einem die Rede von Gott zugemutet. Die Sprachlosigkeit angesichts der verheerenden Grausamkeit wird überwunden von einer neuen Sprache. Plötzlich kann man anders über Gott sprechen, als man es zuvor getan hat. Die österliche Redeweise, die auf das Skandalon des Kreuzes folgt, ist eine, die Gott als den akzeptiert, der wirklich das Leben ist. Die bisherigen Gottesbilder verwischen und es entsteht die Hoffnung, dass Gott gerade im größten Leid und in der größten Einsamkeit präsent ist. Dort, wo die Ohnmacht allumfassend ist – am Kreuz genauso wie in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo am 07.01.2015, in Paris am Abend des 13.11.2015 oder auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am 19.12.2016 – ist Gott am nächsten. An diesen Orten mutet er sich den Menschen zu. Hier können auch neue Erkenntnisse über ihn gewonnen werden, der sich in unserer fragmentarischen Geschichte offenbart. Hier ist seine Macht präsent. In der Ohnmacht der Opfer und in der Solidarität mit ihnen wird der Gottesdiskurs virulent. Ihm auszuweichen, ist beinahe unmöglich.

Vielleicht ist die ungebrochene Solidarität so vieler Menschen die einzig mögliche Reaktion auf den Terror, weil sie wirkliche Sympathie und Mitgefühl offen legt. Vielleicht ist das bewusste Loslassen der eigenen Macht die kraftvollste Entgegnung, mit der man solche Gewalt beantworten kann. Die unerwartete Handlungsweise entzieht einer Herrschaft den Boden, die mit ihrem gewaltsamen Vorgehen den Hass der Angegriffenen provozieren will und im Letzten immer mehr Zwänge fordert. Gott ist hier im Spiel. Er entzieht sich dem Machtkampf nicht. Doch nur auf einer Seite lässt er sich finden – auf Seiten der Opfer. Und zwar egal, welcher Religion sie angehören. Der Ort der bewaffneten Täter*innen ist ihm fremd. Sie werden mit ihm nur in einer einzigen Situation konfrontiert: Wenn Gottes Gerechtigkeit über sie unausweichlich hereinbricht.

Hashtag der Woche: #GottinOhnmacht

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fabian brand

studierte in Würzburg und Jerusalem Katholische Theologie. Er wurde mit einer Arbeit über eine topologische Theologie promoviert und arbeitet derzeit an einer Habilitationsschrift, die sich mit dem Priesterbild des Zweiten Vatikanischen Konzils auseinandersetzt.

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