Was geschieht, wenn man aus einem streng religiösen Umfeld ausbricht und in eine pluralistische Gesellschaft eintritt? Benjamin Bartsch begibt sich mit Deborah Feldman auf den Weg einer Suche nach der Bestimmung der eigenen Identität in säkularen Kontexten.

Aus dem Leben einer Aussteigerin

„War es nicht eine Art mysteriöses Wunder, dass ich zu fühlen begann, wie mein Selbst Form annahm, hier, an diesem unpassendsten aller Orte, unter den unwahrscheinlichsten Umständen?“ (Feldman, 630f.)

Geschichten von Aussteiger*innen gehören einem Genre an, das mit Vorsicht zu genießen ist. Allzu oft handelt es sich um wenig mehr als unnachsichtige Abrechnungen, die nur ein entferntes Zerrbild der von der*dem Autor*in verlassenen Gemeinschaft bieten. So nähere ich mich der Geschichte, die Deborah Feldman im zweiten Teil ihrer autobiographischen Notizen unter dem Titel „Überbitten“ vorlegt, mit der gebotenen Zurückhaltung. Und dann werde ich doch gepackt – als Deutscher, als Christ, als Theologe.

Worum handelt es sich? Nachdem Deborah Feldman 2012 in „Unorthodox“ bereits ihre Kindheit und Jugend in einem ultraorthodoxen jüdischen Shtetl im Bundesstaat New York, mit dem sie schließlich gebrochen hat, erzählt hat, nimmt sie ihre Leser*innen jetzt mit auf die Wege ihrer ersten sieben Jahre außerhalb der Satmarer Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen ist. Sie berichtet davon, wie sie sich an einem College säkulare Bildung aneignet, wie sie mit ihrem Sohn ein neues Leben außerhalb des Shtetls anfängt, von ihren Schwierigkeiten dabei und besonders ausführlich von ihren häufigen Reisen nach Europa und davon, wie sie zuletzt in das wohl unwahrscheinlichste aller Länder für eine Nachkommin von Shoahüberlebenden umsiedelt: nach Deutschland.

Geschichte in Geschichten

Sie erzählt diese Geschichte im Spiegel ihrer großen Liebe, der Literatur. So leitet sie jeden Abschnitt mit einem Zitat eines*einer zumeist jüdischen Autor*in ein, das als Deutungsschlüssel für die Erzählung dienen kann. Im Rückblick auf den Prozess ihrer eigenen Selbstfindung, der sie schließlich nach Berlin, in die alte Hauptstadt des Nazireiches führte, wo sie auf paradoxe Weise so etwas wie geistige Freiheit entdeckt, kann sie deshalb sagen:

„Ich glaube, dass ich größtenteils von der Literatur durch diesen Prozess geführt worden bin. Ich könnte ein weiteres Buch über all meine Lieben zu den zahlreichen hochgeschätzten Autoren schreiben, die mich nicht nur inspiriert sondern durch die jeweils bestimmten Phasen meines Lebens geleitet haben, Autoren, die mich erst lehrten, die richtigen Fragen zu stellen, und die mich dann dazu brachten, ihre Antworten zu begreifen, und zwar nicht nur mit meinem Kopf, sondern in meinem Herzen und in meiner Seele.“ (Feldman, 691)

Hier ist sicher nicht der Ort, alle Wendungen von Deborah Feldmans Geschichte nachzuerzählen oder gar zu analysieren. Ich möchte vielmehr auf zwei Aspekte des Buches hinweisen, die christlichen Theolog*innen helfen mögen, sich selbst in der Fremde des Lebens von Deborah Feldman zu finden, so wie sie sich in fremden Ländern und Büchern gefunden hat.

Spinoza – oder der ketzerische Jude

„Alles, was ich vor Kurzem erst begriffen hatte, da ich die Werke von Salomon Maimon und Spinoza gelesen hatte, hatte mich zu dem Glauben geführt, dass ich mich auf dem Weg zu etwas befand, das man als »säkulares Judentum« bezeichnet, dass ich also sowohl zugleich Jüdin sein konnte als auch Häretikerin, dass Ersteres von Letzterem nicht geschieden war.“ (Feldman, 598)

Auf ihrem Weg entdeckt Deborah Feldman, dass es mehr als eine legitime jüdische Identität gibt und dass sie, auch wenn sie nun außerhalb der chassidischen Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen ist, lebt und sich als säkular versteht, weiterhin jüdisch ist. An dieser Stelle fragt der Theologe in mir: Wie ist das eigentlich bei uns Katholik*innen? Lebt meine Kirche und ein Großteil ihrer traditionellen Theologie nicht in einem harten In-Out-Schema, das den Identitätsabgrenzungen autoritärer Sekten kaum nachsteht? Richtet sich nicht ein Großteil der pastoralen Bemühungen an die ständig schrumpfende Gruppe der mehr als Überzeugten? Wie müsste sie aussehen, eine Theologie, die den pluralen katholischen Identitäten gerecht wird, die ich in meinem Umfeld erlebe? Und in mir erhebt sich die Forderung: „Mehr Respekt für säkulare Katholik*innen!“, zumal der Blick in die verfügbaren Statistiken mir zeigt, dass offenbar die allermeisten Mitglieder meiner Kirche in diesem Land zu ebendieser Gruppe gehören. Nicht nur die Statistik, sondern vor allem auch das grundlegende Recht jedes Menschen und damit auch aller Gläubigen, ihr Leben selbst zu bestimmen, scheint mir doch ein starkes Indiz dafür zu sein, dass auch eine Selbstdefinition als säkulare*r Katholik*in legitim ist.

Gott – oder seine Entstellung im religiösen Diskurs

„Vielleicht ist der eigentliche Machtmissbrauch, der in der ultraorthodoxen Gemeinschaft auftritt, die Zerstörung der eigenen Beziehung zur Vorstellung von Gott. Alle weiteren Misshandlungen können auf diesen ersten Verrat zurückgeführt werden.“ (Feldman, 610)

Deborah Feldmans Buch ist unter anderem deshalb so lesbar, weil es nicht zu einer Abrechnung mit ihrer Vergangenheit gerät, sondern einen zunehmend versöhnten Blick auf sie offenbart. Dieser eine Vorwurf, den sie vorbringt, ist jedoch nicht zurückzunehmen: Gemeinschaften und religiöse Spezialist*innen missbrauchen ihre Macht, wenn sie die Beziehung zur je eigenen Gottesvorstellung zerstören. Dieser Hinweis ist eine zeitlos gültige Erinnerung an das wichtigste Anliegen jeder negativen Theologie. Ja, jede Religion und jede Theologie wird immer Gottesbilder erzeugen, argumentativ begründen und auch verteidigen. Dies ist ihre Aufgabe und nicht weniger darf von ihr erwartet werden. Diese Bilder dürfen jedoch niemals mit den Mitteln der Macht – weder der Argumentations- noch der Sanktionsmacht – einfach durchgesetzt werden. Gute Theologie und eine Kirche, die für sich Akzeptanz beansprucht, werden Gottesbilder nicht mit Machtmitteln durchsetzen wollen, vielmehr muss es ihnen Anliegen sein, dass die Gottesbilder, die sie vorschlagen, Katalysatoren sind, durch die Menschen ihre „eigene Beziehung zur Vorstellung von Gott“ entwickeln. So kann sich vielleicht die Chance ergeben, dass aus der Beziehung zur Vorstellung von Gott eine Beziehung zu Gott wird. Alles andere wäre für mich Verrat – an Menschen, aber auch am Glauben selbst.

Identität angesichts der Fremde

Deborah Feldman findet am Ende ganz ohne theologische oder institutionelle Vermittlung zu ihrer jüdischen Identität: in der Emigration, in der Fremde, fernab von dem Ort und der Gemeinschaft, wo sie aufgewachsen ist, und immer wieder auch in Büchern. Dieser Blick auf Religion und religiöse Identität aus der Fremde ist interessant und ich finde, die Diskurse von Menschen, die beruflich mit Religion zu tun haben, sollten an ihm nicht völlig vorbeigehen.

Es gäbe wohl noch Manches zu sagen über Deborah Feldmans Buch, insbesondere über die Frage des Antisemitismus in Europa, zu dem sie spannende Beobachtungen macht, oder über die Rolle der Erinnerung, die sie anhand ihrer Familiengeschichte beleuchtet. Aber gute Bücher zeichnen sich bekanntlich auch dadurch aus, dass ihr Inhalt nicht in ein paar Zeilen zu erschöpfen ist, sondern dass man immer wieder auf sie zurückkommen kann, so wie auch ein Leben nicht in ein paar Sätze gepresst werden kann. Umberto Eco hat einmal sinngemäß gesagt: „Wer nicht liest, lebt ein Leben. Wer liest, lebt viele Leben.“ Das kann voyeuristisch sein, gerade bei Enthüllungsbüchern von Aussteiger*innen. Das Leben von Deborah Feldman hingegen habe ich mit großem Gewinn gelebt.

Hashtag der Woche: #unorthodox


(Beitragsbild: @jplenio )

Literatur: Deborah Feldman: Überbitten. Zürich 2017.

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benjamin bartsch

hat Philosophie und Theologie in Erfurt, Jerusalem, München, Rom und Frankfurt a.M. studiert und ist Diplomassistent am Lehrstuhl für Dogmatik an der Universität Freiburg/Schweiz.

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