Kürzlich sprach Franca Spies sich an dieser Stelle dafür aus, biblische Texte wieder mehr als Geschichten zu verstehen. Funktioniert das nicht auch in die andere Richtung?, fragt sich Annika Schmitz und stellt zur Diskussion, ob die Werke von Shakespeare und Co nicht auch als sakrale Texte gelesen werden könnten.

From women’s eyes this doctrine I derive:

They sparkle still the right Promethean fire;

They are the books, the arts, the academes,

That show, contain, and nourish all the world.

(Shakespeare, Love’s Labour’s Lost)

Die weltliterarischen Evangelisten und Apostel*innen

Zweifellos ist nicht jede Literatur von gleicher Qualität. Und ein Bestsellerstatus ist noch keineswegs ein Qualitätsmerkmal. Trotzdem gibt es sie, die Autor*innen, deren Werke wir nicht ohne Grund zur Weltliteratur zählen. Es sind die Evangelisten der literarischen Menschheitsgeschichte Homer, Dante, Shakespeare und Joyce nebst den Apostel*innen Dostojewski, Mann, Camus, Austen, Flaubert, Tolstoi, Woolf, Faulkner, Goethe, Dickens, Proust und Balzac, die uns überhaupt erst verstehen lassen, was Menschsein bedeutet. Die Liste könnte beliebig weitergeführt werden; wer für würdig erachtet wird, in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen zu werden, folgt keinem statischen Gesetz. Vielmehr sind es ebendiese Werke, die ihren Wert im Laufe der Zeit dadurch bewiesen haben, dass sie rezipiert wurden: Aufgrund ihrer sprachlich-literarischen Genialität, ihrer Originalität und vor allem ihrer inhaltlichen Bedeutsamkeit über die Grenzen der Generationen hinweg.

Jene literarischen Werke markieren den Ort, an dem über Anthropologie und oftmals Theologie verhandelt wird, der Ort der Fiktion, der der Wirklichkeit immer auch einen Spiegel vorhält, der nicht vorgibt, objektive Geschichtsschreibung zu sein, sondern die Fragen nach Wahrheit, nach Sinn und Humanität in Geschichten, Mythen und Legenden auslotet. Sie bekommen nicht den Stempel der ewigen Gültigkeit ein und für alle mal aufgedrückt, sondern müssen sich ihre Gültigkeit diskursiv stets neu erarbeiten. Selbst die ganz großen Autor*innen, deren Namen in den literarischen Olymp erhoben werden, sind vor diesem Diskurs nicht sicher. Nicht, dass Joyce oder Shakespeare in absehbarer Zeit um ihren Platz bangen müssten – doch ihre Größe erweist sich gerade dadurch, dass sie nicht unbeweglich festgeklebt wurden auf dem himmlischen Thron, sondern stattdessen tagtäglich ihre Relevanz erweisen können und müssen. Wer es schafft, sich auch im jahrhundertelangen Diskurs an der Spitze zu halten, dessen Relevanz ist nur schwer zu leugnen.

Ewig oder nicht ewig, das ist hier die Frage!

Die Kriterien für den heute vorliegenden biblischen Kanon sind keineswegs textimmanenter Art, sondern sind – gleich wenn dies manch einem*einer ungelegen kommt – ebenfalls über Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger diskursiv entstanden. Inwiefern hier nun Machtansprüche, persönliche Vorlieben und anderes eine Rolle gespielt haben, soll gar nicht thematisiert werden. Es soll lediglich an den gerne vergessenen historischen Kontext erinnert werden, dass nicht nur die biblischen Texte selbst, sondern auch das, was wir später als Kanon bezeichnen, nicht einfach vom Himmel fielen. Nicht umsonst sprechen wir von einem Prozess der Kanonentwicklung, der dogmatisch erst mit dem Konzil von Trient festgelegt worden ist, statt von einem plötzlich auf wundersame Weise wie die Jungfrau in Lourdes erscheinenden Kanon, der sich vorstellt mit den Worten: Hallo, I bims, D1 gültiger Kanon vong Ewigkeit her!

Lesung aus dem Heiligen Hamlet?

Nun ist es mit der Sakralität natürlich nicht so polemisierend einfach wie oben dargestellt. Das Kriterium der Offenbarung Gottes, so jemensch bereit ist, dies als Kriterium anzuerkennen, lässt sich nur schwerlich vom Propheten Jesaja auf Cecilia Aherns neuesten Liebesschmöker übertragen. Ist vielleicht auch ein schlechtes Beispiel. Also machen wir es uns etwas einfacher und verkomplizieren es damit: Wie sieht es denn mit dem Alten und dem Neuen Testament aus? Als Christ*innen sehen wir es als selbstverständlich an, dass unsere Bibel aus zwei Teilen besteht. Doch wie kohärent ist es eigentlich, beides im Licht der Selbstoffenbarung des einen und gleichen Gottes zu lesen? Das nur als Problemaufriss am Rande; wie virulent dieses Thema nach wie vor ist, lässt sich beispielhaft an der Debatte zwischen Slenczka und Markschies exerzieren. Für den hiesigen Essay verdeutlicht sich daran einmal mehr, dass wir immer noch um Kriterien für das Definieren sakraler Texte ringen, die sich vor allem im Bereich der Authentizität und Selbstoffenbarung verdichten.

Bei niemandem findet sich diese Diskussion so anschaulich und auf den Punkt gebracht wie bei dem amerikanisch-jüdischen Literaturwissenschaftler Harold Bloom:

„Wenn man will, kann man darauf bestehen, daß alle große Literatur weltlich ist, oder, wenn man es wünscht, daß alle starke Dichtung heilig ist. Inkohärent finde ich das Urteil, daß die eine authentisch literarische Kunst heiliger oder weltlicher als die andere sein soll. Dichtung und Glaube wandern, zusammen oder getrennt, in kosmologischer Leere umher, die durch die Grenzen von Wahrheit und Sinn bezeichnet sind.“

(Bloom, 11)

Die Grenze von Wahrheit und Sinn ist jedoch keineswegs eine spezifisch christliche, und ihre inhaltliche Bestimmung ist, selbst wenn es vieles vereinfachen würde, nicht eines Tages zur Tür hereinspaziert und hat es sich auf dem Sofa vor dem Kamin gemütlich eingerichtet. Vielmehr generieren sich ihre inhaltlichen Definitionen in jenem Diskurs, an dem auch die Literatur beteiligt ist. Hamlet kann hier, das wage ich einmal in den Raum zu stellen, ebenso hilfreich sein wie Paulus.

Mehr Shakespeare wagen!

Shakespeare ist nicht nur das literarische Genie, an dem sich alle anderen Literat*innen abarbeiten und zu messen versuchen auf dem Spielfeld der Sprache. Vielmehr sind seine Figuren Repräsentant*innen der Menschheit, deren Charaktere wir längst internalisiert haben:

„Fast jede folgenreiche Figur bei Shakespeare hilft ein mimetisches Verfahren einzuführen, das uns so natürlich geworden ist, daß es jetzt sozusagen uns enthält; es ist zu einer Kontingenz geworden, die wir nicht als eine solche erkennen.“

(Bloom, 49)

Anders gesagt: Wir sind, was wir sind, weil Shakespeare uns gezeigt hat, wie wir sein können. Natürlich finden sich Analogien dazu in biblischen Texten. Aber eben auch in außerbiblischen Texten, man denke nur an Homer. Die Offenbarung von – ja, von was eigentlich? Von Gott? Von Wahrheit? Von menschlichen Hoffnungen, Träumen und Sinnfragen? -, ist wahrlich kein spezifisch biblisches Phänomen. Das ist an sich kein Problem, solange nicht der eine Textkanon als immerwährend richtweisender, als richtiger, eben als sakraler bezeichnet wird und damit eine strikte Distinktion von profaner und sakraler Literatur eröffnet, die nicht mehr diskursfähig ist, weil die Grenze zwischen beiden lehramtlich als eine Grenze mit ewigem Gültigkeitsanspruch definiert wird.

Damit soll die Notwendigkeit des biblischen Kanons keinesfalls negiert werden. Vielmehr möchte ich zur Koexistenz von biblischem und literarischem Kanon aufrufen, in der ersterer nicht beansprucht, im alleinigen Besitz jener Kriterien zu sein, die eine inhaltliche Unterscheidung von profan und sakral festmachen und Sakralität einzig biblisch kanonisierten Texten zuschreiben. Wenn wir mit Dante durch die Tore in die Unterwelt eintreten, mit Elizabeth Bennet unsere eigenen Grenzen überwinden, mit Siddartha fremde Kulturräume erkunden, von Dr. Rieux unseren Gottesbegriff in Frage stellen lassen und mit Jane Eyre um Freiheit und Liebe kämpfen, dann befinden wir uns genau an jenem Ort, an dem die Kategorien und Inhalte des Menschlichen und Göttlichen verhandelt werden – und zwar unabhängig und autonom. Spricht man der Literatur diese ihre ureigene Aufgabe ab (und ja, auch die Bibel ist Literatur!), dann wären Shakespeare, Dante, Joyce und Konsorten nichts weiter als ein Medium biblischer Adaption. Die in diesen Werken beschriebenen Menschheitserfahrungen und die Wirklichkeit, die sie nicht nur projizieren, sondern generieren, wären jener der biblischen Wirklichkeit dann immer untergeordnet. Das kann man glauben, muss man aber nicht.

Bleibt am Ende offen: WWSS (What would Shakespeare say)?

Ich halte es da gerne mit Puck:

„Lord, what fools these mortals be!“ (Shakespeare, A Midsummer Night’s Dream)


Hashtag der Woche: #holyhamlet

Literatur:

Harold Bloom, Die heiligen Wahrheiten stürzen. Dichtung und Glaube von der Bibel bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1991.

William Shakespeare, The Complete Works. New York 1997.

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annika schmitz

studierte katholische Theologie in Freiburg, Jerusalem und an der Yale University/USA. An der Universität Wien promoviert sie im Bereich von Literatur und Religion. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Journalistin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

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