Gepflegter Genre-Snobismus

Science Fiction ist eigentlich nicht mein Genre. Die Bücher sind schlecht geschrieben. Die Filme sind inhaltlich flach. Beide sind zu effekthascherisch. Ja, ich fälle hier snobbige Pauschal-Urteile und jede*r, der*die sich ein bisschen auskennt, wird mich schnell unter den Tisch argumentieren können. Das ändert nichts daran, dass ich bei nächster Gelegenheit vermutlich wieder zu Jane Austen und nicht zu H. G. Wells greife. Very snobby. Und auch noch stolz drauf.

Das schöne an naserümpfenden Pauschalurteilen — auch bekannt als Vorurteile — über Dinge (bitte niemals über Menschen) ist die positive Überraschung. Der Moment, in dem mensch sagt: „Pfui! Vegetarisches Essen … Oh, geile Grünkernbolognese“ oder „In den Charts läuft nur Schrott … Hey, diese Taylor Swift groovet ja voll“. Auf diese Schlüsselerlebnisse folgt der verbale Gang nach Canossa zu den Päpst*innen des Vegetarismus und der Singlecharts. Ja, ihr hattet recht. Nein, es ist nicht alles schlecht. Ja, ich werde es wieder tun (wenn niemand zuschaut).

Mit diesem Beitrag leiste ich also meinen persönlichen SciFi-Canossagang. Und was meinem fiktiven Carnivoren die Grünkernbolognese und meinem Alternativmusikfreak die stimmegewordene Presswurst von Taylor Swift war, der Wendepunkt, das Damaskus-Erlebnis, war für mich ein Film: Denis Villeneuves „Arrival“.

Arrival

An dieser Stelle hätte ich gerne das Trailer-Video eingebettet, das m. E. jedoch in die Irre führt. Der Film wirkt darin bestenfalls wie „Independence Day 3. Genauso unnötig wie die ersten beiden, aber dieses Mal langweilig“. Ist er aber nicht: weder unnötig noch langweilig, sondern atmosphärisch unheimlich dicht, ästhetisch ansprechend, intelligent konstruiert und geduldig, aber fesselnd erzählt. Die Kritik in der Filmzeitschrift des epd umschreibt „Arrival“ treffend als „eine leise Meditation über Verlust und Trauer, Kommunikation und Zeit, Vertrauen und Hoffnung“. Und auch der WELT möchte ich zustimmen, wenn sie behauptet: „‘Arrival’ ist der Film, der Christopher Nolans ‘Interstellar’ zu sein versuchte, vergeblich: ein intimes Epos unserer Existenz.“

WARNUNG: Ich habe versucht, den Artikel von Spoilern frei zu halten. Wer ihn liest, wird den Film vermutlich dennoch in irgendeiner Form „mit meinen Augen“ sehen. Um das zu vermeiden, sollte der*die geneigte Leser*in sich vorher schnell ins Kino begeben.

Zum Inhalt des Films, der auf einer Kurzgeschichte von Ted Chiang beruht, sage ich nur wenige Sätze, damit alle Leser*innen diesem Beitrag gut folgen können: In zwölf Raumschiffen landen Außerirdische an verschiedenen Stellen der Erde und die Menschheit macht es sich zur Aufgabe, mit ihnen in Kommunikation zu treten. Nach einigen Startschwierigkeiten beginnt eine Form des schriftlichen Austausch, wobei es der verantwortlichen Linguistin gelingt, die Schrift der fremden Spezies zu analysieren und ansatzweise zu erlernen. Damit ändert sich ihre Sicht auf die Welt: Bilder von ihrer Tochter schießen ihr wieder und wieder durch den Kopf, die Gegenwart im Camp unweit des Raumschiffes wird zunehmend mit diesem zweiten Handlungsstrang des Schicksals ihrer Tochter verwoben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen, bis sie kaum mehr auseinanderzuhalten sind.

Die Sapir-Whorf-Hypothese

Die Schrift der wegen ihrer sieben Füße als Heptapoden bezeichneten Außerirdischen wird im Film den logographischen Schriften zugeordnet. Die kreisförmigen Logogramme, mittels derer die Außerirdischen kommunizieren, bestehen je aus einzelnen Zeichen, die in ihrer Summe die gewünschte Bedeutung ergeben. In unsere Alphabet-Schrift umgedacht kann mensch sich das vielleicht als eine Art Begriffscluster vorstellen — als wären beispielsweise unsere y-nachten-tags, die wir jeweils den Artikeln zuordnen, ein Ausdruck für den zentralen Gedanken des Artikels selbst. Der Film erklärt, die logographische Schrift sei vergleichbar mit dem Versuch, einen Satz von hinten und vorne gleichzeitig zu schreiben. Das Gesamt der Bedeutung muss bereits bekannt sein.

Der Vergleich mit tags hinkt sicher und ist auch schwer genug zu verstehen. Aber das wiederum verweist auf einen Inhalt von „Arrival“, der gewissermaßen die strukturelle Grammatik des ganzen Films vorgibt: die Sapir-Whorf-Hypothese. Das klingt wie der Titel einer Big-Bang-Theory-Folge, bezeichnet aber eine Überlegung zum Zusammenhang von Sprache und Denken. Demnach beeinflussen Grammatik und Wortschatz der Muttersprache eines Menschen seine Weltsicht entscheidend. Wer mit der deutschen Sprache und Schrift aufwächst, wird also immer in anderen Kategorien denken als beispielsweise ein*e Chinesisch-Muttersprachler*in. Daraus wird ersichtlich, dass es zwischen unserer Alphabet-Schrift und einer logographischen einen so gravierenden Unterschied gibt, dass dieser reflexiv höchstens hinkend einholbar ist.

Sein und Zeit

Dem Aufeinanderprallen der beiden Schriften entspricht in „Arrival“ das Aufeinanderprallen zweier Zeitverständnisse. Sobald die Protagonistin beginnt, die Logogramme zu entschlüsseln, verschwimmt ihre Wahrnehmung der Zeit. Neben der gegenwärtigen gibt es eine weitere Geschichte, die jedoch über weite Strecken des Films nicht eindeutig terminiert wird. Vergangenheit und Zukunft wirken in das ein, was zum Zeitpunkt der Gespräche mit den Außerirdischen geschieht.

Unserer Von-links-nach-rechts-Buchstaben-Schrift (diese Konzentration auf den westlichen Kulturkreis sei mir kurz gestattet) entspricht ein lineares Zeitverständnis. Wir gehen von einem Zusammenhang von Ursache und Wirkung aus, was wir jetzt tun, hat bald Konsequenzen. Absolute Sicherheit über die Folgen unserer Entscheidungen können wir im Moment der Entscheidung selbst jedoch nicht haben. Die Situation der Entscheidung begründet damit immer wieder Unsicherheiten und Zweifel. Nicht genau wissen, was die Zukunft bringt und dennoch ständig von ihr getrieben sein — auch das gehört zu unserem Zeiterleben. Oder wie Heidegger formuliert hätte: Wir entwerfen uns auf unsere Möglichkeiten hin.

Dem gegenüber steht in „Arrival“ auf Alienseite ein gefühltes Ineinander der Zeiten, das den kreisförmigen Logogrammen der außerirdischen Sprache entspricht. Die Gegenwart bestimmt sich folglich weniger aus der Vergangenheit und durch sich selbst, sondern von der Zukunft her. Entscheidungen werden gefällt, weil bereits bekannt ist, was passieren wird, und sie werden gemäß der bekannten Zukunft gefällt. Bedenkt mensch das Bild des von beiden Seiten geschriebenen Satzes, wird die Parallele dieses Zeiterlebens zur „Syntax“ der außerirdischen Sprache offenkundig.

Der Fielmann-Moment

In beiden Fällen bestimmt die Zukunft den Moment der Entscheidung: in menschlicher Form als Fülle von Optionen, als Ahnung einer Präferenz, als kluge Voraussicht, als vorsichtiges oder gar ängstliches Tasten; in außerirdischer Form als unausweichlicher Weg zu dem Ziel, das bereits als Gegebenes gewusst wird. Wer versucht, diese zweite Möglichkeit zu durchdenken, wird vermutlich nur Kopfschmerzen davontragen. Sie bleibt paradox und riecht nach Determinismus, obwohl sie vielleicht nicht zwingend einer sein muss. (An dieser Stelle böte es sich an, einen Exkurs zu der Frage einzufügen, wie viele Theolog*innen die Allwissenheit Gottes ohne einen Determinismus zu denken versuchen; doch wie würde der alte Briest sagen: Ach Luise, das ist ein zu weites Feld.) Hingegen erleben wir, die Von-links-nach-rechts-Schreibenden-und-Denkenden, die Möglichkeit der unsicheren Zukunft alle täglich. Wir kennen ihre Vor- und Nachteile, die Schönheit und die Last der Multioptionalität.

Die Vorstellung einer gewussten Zukunft spricht jedoch unsere Erinnerungsstruktur an: Im Bedenken der eigenen Vergangenheit kennen wir kaum so etwas wie Linearität, stattdessen finden wir dort Schwerpunkte, Cluster und unbegreifliche Strukturen von Bildern und Erlebnissen. Es hat etwas sehr Menschliches, das Zeiterleben insgesamt so begreifen zu wollen. Ein Kennen der Zukunft birgt außerdem den Reiz, dass im Entscheidungsmoment keine Unsicherheit herrschen muss. Der nette ältere Herr aus der Werbung hätte von Anfang an seine Brillen bei einer bestimmten Kette gekauft und müsste später nichts bereuen.

„Arrival“ bietet einen wunderbaren Anstoß zum Nachdenken: Über Entscheidungen, Kommunikation, Freiheit, Angst, Erinnerungen, Müssen, Sollen, Identität. Und in meinem Fall über Vorurteile. Gegenüber einem bestimmten Genre beispielsweise.

Hashtag: #arrival

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franca spies

studierte katholische Theologie in Freiburg und Jerusalem. Nach ihrer Promotion in Freiburg arbeitet sie nun in der Fundamentaltheologie an der Universität Luzern. 2016 hat sie y-nachten mitgegründet und gehört bis heute der Redaktion an.

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